Auch Victor beginnt es mehr und mehr zu frösteln. Seine Arme zittern, seine Lippen bibbern vor Kälte. Er ist nur mit einer Hose bekleidet, die er mit einer Kordel um seine Hüfte gebunden hat und die ihm nicht einmal bis an seine Knöchel reicht. Seinen Oberkörper umhüllt ein viel zu dünnes Hemd, an dem bereits vier Knöpfe fehlen. Lose, wie eine Plane im Wind, flattert es an seinem Körper. Die Sohlen seiner Schuhe haben Löcher. Mehrere, sodass auch diese seine Füße nicht vor der Nässe und Kälte des Untergrunds schützen können. Victor hofft, dass er seine Jacke gestern in der Kneipe vergessen hat und sie ihm nicht ein anderer Fischer in den Morgenstunden stahl, als er in seinem Boot schlief. Er könnte es sich nicht leisten, eine neue Jacke zu kaufen. Und ohne einer Jacke wäre es für ihn unmöglich, im Winter zur See zu fahren. Das würde er nicht überleben.
Eine Gruppe Männer kommt ihm entgegen. Sie singen Lieder und grölen unverständliche Worte in den klaren Nachthimmel empor. Jeder von ihnen trägt eine Waffe gut sichtbar am Leib. Es sind Feldarbeiter, unter ihnen auch Kriminelle und Verbrecher aus der alten Welt , die hier in den neu gegründeten Kolonien einen Neuanfang wagen. Wenn sie sich die Gebühr für die Schiffsüberfahrt nicht leisten können, wird diese für sie von den ortsansässigen Grundbesitzern übernommen und somit sind diese Männer verpflichtet, ihre Schulden auf den Feldern dieser Wohlhabenden abzuarbeiten. Aber das stört die Wenigsten von ihnen. Sie sind froh, überhaupt eine Chance für einen Neuanfang ermöglicht zu bekommen. Manche von ihnen schlafen in Scheunen im Dorf verteilt, andere wiederum haben sich in Gruppen Hütten am Dorfrand errichtet und hausen dort. Die meisten von ihnen haben keine Familien. Sie stehen in der Früh auf, gehen hinaus aufs Feld, um ihre Arbeit zu verrichten. Danach führt sie ihr Weg in die Kneipe, um ihre Probleme, Sorgen und jene Gedanken, die sie tagsüber beschäftigt und gequält haben, mit Alkohol zu ertränken. Wenn sie dann dem Trinken und dem Geschrei irgendwann überdrüssig geworden sind, schleifen sie ihre abgearbeiteten Körper wankend durch die Gassen zu ihren Schlafstätten. Noch bevor die Sonne dann wieder aufgeht, erheben sich ihre müden Leiber und das Rad beginnt sich erneut von vorne zu drehen. Die Waffen brauchen sie zur Verteidigung ihres Lebens auf den Feldern außerhalb des Dorfes. Indianer sind es, wovor sie sich schützen müssen. Der Krieg zwischen den Indianern und den Siedlern der gegründeten Kolonie Neuengland dauert schon seit Jahren an. Die Menschen haben Angst vor ihnen, fürchten sich vor ihrem Aussehen, verstehen ihre Sprache und ihre Kultur nicht und aufgrund ihrer furchteinflößenden Rituale sind sie sich sicher, dass dieses Volk mit dem Satan selbst in Verbindung steht. Doch ihre größte Furcht ist es, den Krieg gegen die Indianer zu verlieren.
Victors Weg zum Fischhändler führt ihn über den Marktplatz Salems. Nur noch wenige Menschen sind auf den Straßen unterwegs. Aus den Häusern dringt das Licht der angezündeten Kerzen, die mittig auf den Esszimmertischen stehen und die größtenteils spärlichen Mahlzeiten erhellen. Nur sehr selten vernimmt man den Geruch von gekochtem Fleisch, vor allem nur dann, wenn man an den Häusern der gutbetuchten Bürgerlichen vorbeikommt. Der Rest von ihnen, die Bauern, Handwerker und Fischer, muss sich mit dem begnügen, das sie selbst auf den kargen Böden ihrer Gärten anbauen können. Etwas Gemüse, vor allem aber Roggen, den sie zu Brot verarbeiten, dem Hauptnahrungsmittel vieler in Salem.
Victor hat Glück, der Fischhändler hat noch Licht. Als er den Laden betritt, sitzt dieser gerade an seinem Tresen und arbeitet an seinen Büchern, prüft die Anzahl der verschiedensten Fische, die er im Laufe des Tages gekauft und wiederum verkauft hat und zählt seinen Gewinn.
»Victor! Ich dachte nicht, dass du mich heute noch beehren würdest«, begrüßt er ihn freundlich, ohne aber dabei seine Aufmerksamkeit von den Zahlen in den Büchern zu nehmen.
»Hallo, Albert. Ich weiß, es ist spät. Und ich habe heute nicht viel für dich. Aber du weißt ja, ich kann jeden Penny, den du mir bietest, dringend gebrauchen«, schließt Victor hinter sich die Tür.
Im Geschäft des Fischhändlers herrscht ein beißender Geruch. Nur noch wenige unverkaufte Fische liegen ausgenommen und bereit für die Kundschaft auf den Ablageflächen vor dem Tresen. Ihre Augen sind glasig, ihre Kiemen noch blutrot. Fangfrisch bietet Albert seine Ware den wohlhabenden Einwohnern Salems jeden Tag von neuem an. Albert ist beliebt in der Stadt. Seine Kunden schätzen ihn aufgrund der hohen Qualität seiner Produkte und auch die Fischer tätigen gerne Geschäfte mit ihm, weil er ihnen einen fairen Preis für ihren Fang bezahlt. Albert war selbst früher auch einmal Fischer, weshalb er von den Gefahren ihrer Arbeit weiß und diese auch anständig vergütet.
»Was hast du denn heute für mich, Victor?«
Victor tritt an den Tresen heran und legt die vier Fische auf die Holzplatte. Albert prüft die Fische, deren Kiemen, Fleisch, Augen und misst die Größe ab.
»Viel kann ich dir dafür aber nicht anbieten, Victor. Du bist etwas zu spät. Das Hauptgeschäft für heute ist schon gelaufen. Ich muss froh sein, wenn ich sie morgen Vormittag noch verkaufen kann…«
»Ich weiß, Albert. Ich werde annehmen, was du mir bietest.«
Albert öffnet seine Kasse mit einem langen Messinghebel an der Seite und zählt ein paar Münzen daraus auf seine Hand. Diese reicht er Victor und der steckt sie, ohne sie nachzuzählen, in die Tasche seiner Hose.
»Danke, Albert. Eine gute Nacht wünsche ich dir.«
»Das wünsche ich dir auch, Victor. Und morgen komm gefälligst wieder etwas früher, dann kann ich dir einen besseren Preis für deine Fische bezahlen.«
»Werde ich machen«, verabschiedet er sich von Albert und tritt wieder hinaus auf die Straße.
Er überquert erneut den mittlerweile menschenleeren Marktplatz, aber an der Kreuzung bleibt er stehen. Er überlegt kurz. Soll er nach Hause gehen, ein Stück Brot essen und vielleicht etwas Milch trinken und sich dann schlafen legen? Vielleicht hat seine Frau, oder seine Tochter auch etwas Gemüse gekocht. An dem Feuer im Ofen könnte er seine durchgefrorenen Glieder wärmen. Er überlegt noch immer. Für ein paar Minuten steht er einfach so da, doch dann dreht er sich um und biegt in die Nebengasse zu seiner Rechten, wie an den meisten Tagen der Woche auch.
Nach kurzer Zeit ist das Geschrei angetrunkener Männer bereits auf den Gassen zu hören. Es ist nicht mehr weit, nur noch ein paar Meter, dann kann sich Victor auf einen Hocker am Tresen niederlassen, sich einen Krug Bier bestellen und seine Probleme damit versuchen zu ersäufen. Nur noch wenige Meter. Eine dünne Gestalt erscheint am Ende der Gasse und kommt direkt auf Victor zu. Sie trägt ein hellblaues Kleid mit einer weißen Schürze. Ihr Haar ist hochgesteckt und unter einer weißen Haube verborgen. Eine Dienstmagd, die sich nach einem langen, anstrengenden Tag auf dem Weg nach Hause zu ihrer eigenen Familie macht, um sich um diese zu kümmern.
»Victor?«, ruft sie dem Mann entgegen, als der mit gesenktem Kopf beinahe an ihr vorbeiläuft.
»Eleanor«, begrüßt er sie beiläufig und bleibt dabei nicht einmal stehen.
»Victor, warte«, dreht sich die Frau um und packt ihn am Arm. »Wo willst du hin?«
»Das weißt du doch. Also wieso fragst du?«
»Weil du gestern Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen bist, Victor. Nach Hause, zu deiner Tochter und mir. Wir brauchen dich.«
»Ihr kommt ganz gut ohne mich zurecht, Eleanor«, hebt er seinen Kopf und blickt seiner Frau zum ersten Mal seit Tagen wieder in ihr Antlitz. »Dahlia ist schon fast erwachsen. Sie hilft dir im Haushalt, baut Gemüse an, erntet es und bäckt Brot. Du verdienst auch ein paar Pence als Dienstmagd. Ihr braucht mich also nicht«, antwortet er Eleanor, holt die Flasche Whiskey aus seiner Hemdtasche und nimmt einen ordentlichen Schluck.
Читать дальше