Westlich der Tonga-Inseln
Schon seit einer geraumen Weile bildete die Kimm eine eintönige, gerade, blaue Trennlinie zwischen dem Pazifik und dem Himmel. Der Navy-Hubschrauber flog mit Höchstgeschwindigkeit in niedriger Höhe über den Wellen. Trotz des Lärms und der von den Rotorblättern verursachten Erschütterungen schlief Norman Johnson ein. Er war müde; immerhin war er seit über vierzehn Stunden mit verschiedenen Militärflugzeugen unterwegs. Derlei war ein dreiundfünfzigj ähriger Psychologieprofessor nicht gewöhnt.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte. Als er aufwachte, war die Horizontlinie immer noch vollkommen plan; weit voraus sah er weiße Halbkreise - die Brandung um Korallenatolle. Über die Helmsprechanlage erkundigte er sich: »Was ist das da vorne?«
»Ninihina und Tafahi«, erklärte der Pilot. »Gehören zu den Tonga-Inseln, sind aber unbewohnt. Gut geschlafen?«
»Es geht.« Norman warf einen Blick auf die unter ihnen vorüberhuschenden Inseln: Eine geschwungene Uferlinie aus hellem Sand, eine Handvoll Palmen - vorbei. Wieder lag nichts als glatter Ozean vor ihnen.
»Von wo hat man Sie geholt?« wollte der Pilot wissen.
»Aus San Diego«, sagte Norman. »Bin gestern abgeflogen.«
»Dann sind Sie also über Honolulu, Guam und Pago gekommen?«
»Stimmt.«
»Ganz schön weit«, sagte der Pilot. »Was machen Sie, Sir?«
»Ich bin Psychologe«, sagte Norman.
»Seelenklempner?« Der Pilot grinste. »Warum nicht? Sie haben schon alle möglichen anderen zusammengetrommelt.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Seit zwei Tagen karren wir von Guam aus Leute ans Ende der Welt, hier mitten in den Pazifik: Physiker, Biologen, Mathematiker und weiß der Geier was noch.«
»Was ist denn los?« fragte Norman.
Der Mann warf ihm einen Blick zu. Hinter den dunklen Gläsern der Pilotenbrille waren seine Augen nicht zu erkennen. »Uns hat man nichts gesagt, Sir. Und Ihnen?«
»Mir wurde gesagt, ein Flugzeug sei abgestürzt«, antwortete Norman.
»Mhm«, sagte der Pilot. »Holt man Sie öfter zu so was?«
»Ist schon vorgekommen, ja.«
Seit einem Jahrzehnt stand Norman Johnson auf der Liste des amerikanischen Bundesluftfahrtamtes. Wenn ein Zivilflugzeug abstürzte, entsandte diese Behörde zur Untersuchung der näheren Umstände und der Unfallursache Expertenteams an die Absturzstelle. Deren Mitglieder mußten stets von einem Augenblick auf den anderen abrufbereit sein. Normans erster Einsatz war 1976 in der Nähe von San Diego gewesen, wo eine Maschine der United Airlines abgestürzt war; 1978 hatte man ihn nach Chicago und 1982 nach Dallas beordert. Jedesmal war es das gleiche gewesen - ein dringender Anruf, hastiges Pakken, dann war er eine Woche oder länger fortgeblieben. Als man ihn diesmal jedoch am 1. Juli holte, hatte seine Frau Ellen sich geärgert, denn das bedeutete, daß er zu der für den 4. Juli, dem Nationalfeiertag, geplanten Grillparty am Strand nicht zurück sein würde. Außerdem wollte Tim nach seinem zweiten Jahr an der Universität von Chicago auf dem Weg zu einem Ferienjob in den Cascades aus diesem Anlaß zu Hause vorbeischauen. Amy, inzwischen sechzehn, war gerade aus Andover zurückgekehrt; sie und Ellen vertrugen sich nicht besonders, wenn Norman nicht als Vermittler in der Nähe war. Da war noch so manches andere: der Volvo machte schon wieder eigentümliche Geräusche, ganz abgesehen davon, daß Norman möglicherweise in der kommenden Woche den Geburtstag seiner Mutter verpassen würde.
»Worum geht es überhaupt?« hatte Ellen wissen wollen. »Ich hab von keinem Absturz gehört.«
Während er packte, schaltete sie das Radio ein. Aber auch in den Nachrichten wurde mit keinem Wort ein Flugzeugabsturz erwähnt.
Der Wagen, der ihn abholte, gehörte, wie Norman voller Überraschung feststellte, zur Fahrbereitschaft der Navy. Der Fahrer trug eine Navyuniform.
»So einen Wagen haben sie noch nie geschickt«, sagte Ellen, während sie ihm die Treppe hinab zur Haustür folgte. »Ist eine Militärmaschine abgestürzt?«
»Ich weiß es nicht«, gab er zurück.
»Wann kommst du wieder?«
Er küßte sie zum Abschied. »Ich ruf dich an«, sagte er, »ganz bestimmt.«
Aber das hatte er nicht getan. Zwar war jedermann sehr freundlich und zuvorkommend zu ihm gewesen, aber an ein Telefon hatte man ihn nicht gelassen - weder am Stützpunkt Hickham Field auf Honolulu, noch bei den Marinefliegern auf Guam, wo er um zwei Uhr morgens angekommen war. Dabei wäre reichlich Zeit gewesen - er hatte dort bis zu seinem Weiterflug eine halbe Stunde in einem Raum verbringen müssen, in dem es nach Kerosin roch. Während er wartete, hatte er verdrossen in einem Exemplar desAmerican Journal of Psychology geblättert, das er bei sich hatte. Als er bei Morgengrauen auf Pago Pago eintraf, hatte man ihn eilends an Bord eines wartenden Sea Knight-Hubschraubers gebracht, der unverzüglich von der Startbahn abgehoben und über Palmen und verrostete Wellblechdächer hinweg Westkurs in den Pazifik hinaus genommen hatte.
In diesem Hubschrauber saß er jetzt seit zwei Stunden. Einen Teil der Zeit hatte er vor sich hin gedöst. Ellen, Tim, Amy und der Geburtstag seiner Mutter schienen in weiter Ferne zu liegen.
»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Im Südpazifik zwischen Samoa und den Fidschi-Inseln«, sagte der Pilot.
»Können Sie mir das auf der Karte zeigen?«
»Dazu bin ich nicht ermächtigt, Sir. Außerdem würden Sie nicht viel sehen. In einem Umkreis von zweihundert Meilen ist hier nichts als Wasser.«
Norman sah auf die Linie der Kimm, die nach wie vor blau und gerade vor ihnen lag. Das glaube ich glatt, dachte er. Er gähnte. »Finden Sie es nicht langweilig, immer nur das da zu sehen?«
»Ehrlich gesagt, nein, Sir«, sagte der Pilot. »Ich bin richtig froh, daß die See so ruhig ist. Dann haben wir wenigstens gutes Wetter. Es hält sich sowieso nicht mehr lange. Über den Admiralitätsinseln soll sich ein Zyklon zusammenbrauen, der bestimmt in ein paar Tagen hier ist.«
»Und was passiert dann?«
»Jeder rettet sich, so schnell er kann. Das Wetter kann in dieser Ecke ziemlich ekelhaft sein, Sir. Ich stamme aus Florida und hab schon als Junge ein paar Wirbelstürme miterlebt - aber im Vergleich zu einem pazifischen Zyklon war das eine leichte Brise.«
Norman nickte. »Wann kommen wir an?«
»Jeden Augenblick, Sir.«
Nach zwei Stunden Eintönigkeit wirkte der Anblick der kleinen Flotte beinahe aufregend. Mehr als ein Dutzend Schiffe verschiedener Typen waren annähernd konzentrisch angeordnet. Im äußeren Kreis zählte Norman acht graue Zerstörer der US-Navy. Näher zur Mitte lagen große Schiffe, die mit ihren ziemlich weit auseinander liegenden Doppelrümpfen aussahen wie schwimmende Trockendocks; dann kamen schwer klassifizierbare kastenförmige Schiffe mit Hubschrauberlandedecks, und in der Mitte stachen aus all dem Grau zwei weiße Schiffe hervor, beide mit einem Landedeck und einer Landemarkierung.
Der Pilot schnurrte herunter: »Außen bilden die Zerstörer einen Schutzring, und innerhalb liegen Fernversorger für die Roboter. Der Rest sind Versorgungs- und Nachschubschiffe, und in der Mitte OFUVs.«
»OFUVs?«
»Schiffe für Ozeanforschung und Vermessung. Sie liefern meereskundliche Daten.« Der Pilot wies auf die weißen Schiffe. »Da an Backbord liegt dieJohn Hawes und an Steuerbord dieWilliam Arthur. Wir gehen auf derHawes runter.« Er flog die Formation in einem Kreis ab. Norman sah zwischen den Schiffen Barkassen hin und her gleiten. Gegen das tiefblaue Wasser hob sich ihr weißes Kielwasser deutlich ab.
»Und all das für einen Flugzeugabsturz?« fragte Norman.
»Nee«, sagte der Pilot mit breitem Grinsen. »Von einem Absturz hab ich nichts gesagt. Sind Sie fest angegurtet, Sir? Wir landen.«
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