Anna Grue - Die Wurzel des Bösen

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"Bücher, bei denen man vergisst, im Bus an der richtigen Haltestelle auszusteigen." NDR
Christianssund, eine Woche vor Weihnachten: Während die Bewohner der beschaulichen Küstenstadt letzte Geschenke besorgen, wird der erfolgreiche Bauunternehmer Peter Münster-Smith erstochen in seiner Firma aufgefunden. An Verdächtigen besteht kein Mangel: Die Liste der Menschen, die von Münster-Smith abhängig waren, ist lang. Der Unternehmer hatte viel Geld, von dem er sich Freunde und Geliebte kaufte. Als Privatermittler Dan Sommerdahl von dem Fall erfährt, winkt er zunächst ab, denn er hat mit der Ordnung seines turbulenten Privatlebens genug zu tun. Doch schnell wird klar, dass die Polizei nicht weiterkommt. Notgedrungen begibt sich Dan auf Spurensuche, die bei ihm selbst beginnt – denn er war einer der Letzten, denen Münster-Smith lebend begegnet ist …

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Anna Grue

Die Wurzel des Bösen

Sommerdahls fünfter Fall

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Die Wurzel des Bösen - изображение 1

Für Jesper. Wen sonst?

Donnerstag, 16. Dezember 2010

1

Nick zog die Kapuze seiner Winterjacke über den Kopf, von der schwarzen Strickmütze war jetzt nur noch ein schmaler Streifen auf der Stirn zu sehen.

»Ich gehe«, erklärte er. »Willst du nicht auch bald Feierabend machen?«

Christina schüttelte den Kopf. »Ich habe dem Meister versprochen, heute noch fertig zu werden.«

»Streikbrecherin.« Nick sah sie an. »Vergiss nicht, hinter dir abzuschließen.«

Christina stellte sich ans Fenster. Sie blickte dem Malergesellen nach, der den Hof überquerte und in der dunklen Toröffnung verschwand. Als er die Tür zur Straße öffnete, leuchtete für einen Moment ein schräges Rechteck auf dem Asphalt auf. Sie blieb einen Augenblick stehen, die Stirn an die kühle Thermoscheibe gelehnt. Es war bereits dunkel, obwohl es erst vier Uhr nachmittags war. Seit gut einer Stunde fiel Schnee, und man sah deutlich, wo Nick, Jørn und die Angestellten der Firma entlanggelaufen waren. Ihre Fußspuren führten von der Tür des Hinterhauses zum Tor und kreuzten sich mit Fahrradspuren, die unter dem Vordach auf der anderen Seite des Hofes begannen.

Als Christina sicher war, dass ihre Kollegen verschwunden waren, ging sie zurück in den Raum, in dem sie arbeitete, und schaltete zuerst den Ghettoblaster aus. Wenn sie diese manisch plappernden Moderatoren auf Radio Voice auch nur eine weitere Minute ertragen müsste, würde sie schreien. Oder vielleicht heulen. Das war einer der Nachteile für sie als Auszubildende, dass die Gesellen bestimmten, was sie hören wollten. Und das war in diesem Fall Radio Voice . Nick und Jørn schworen auf den Sender.

Andererseits würden die beiden Männer bei der Musik, die durch die Ohrhörer von Christinas iPod drang, garantiert die Augen verdrehen. Sie stellte die Musik so laut, bis sie nur noch Patsy Clines Stimme hörte, und sang aus vollem Hals mit: »Crazyyy, I’m crazy for feeling so lonelyyy. I’m crazyyy, crazy for feeling so bluuuue.« Gut, dass niemand sie hören konnte.

Singend reinigte Christina den unhandlichen fünfunddreißig Zentimeter breiten Spachtel, mit dem sie den ganzen Nachmittag über gekämpft hatte. Sie nahm sich einen schmaleren Spachtel, bevor sie die Spachtelmasse in den Plastikeimer füllte und in dem Raum weiterarbeitete, für den sie verantwortlich war. Ihr rechter Arm und die Schulter schmerzten, weil Nick und Jørn darauf bestanden hatten, dass sie mit dem breiten Spachtel arbeitete. »Sonst kommen wir nicht schnell genug voran, Mädel«, hatte Nick erklärt, und der etwas ältere Jørn hatte ihm zugestimmt: »Es kann ja wohl nicht angehen, dass wir in Rückstand geraten, nur weil wir eine Frau in der Kolonne haben.«

Die beiden Gesellen arbeiteten mühelos mit dem breiten Spachtel. Es sah so leicht aus, wenn Jørn in wenigen Augenblicken einen Quadratmeter Wand verspachtelte, ohne sich nach mehr Spachtelmasse bücken zu müssen. So geschickt wollte Christina auch werden. Der Unterschied zwischen einem ausgewachsenen, 1,90 Meter großen, muskelbepackten Mann und einem schmächtigen, einundzwanzigjährigen, 1,62 Meter großen Mädchen ließ sich nicht leugnen. Natürlich lieferte sie ein ebenso gutes Finish wie Jørn und Nick ab, doch sie würde niemals so schnell arbeiten können wie die beiden. Vielleicht war sie tatsächlich nicht kräftig genug für diesen Beruf, dachte sie und hob den Eimer auf die oberste Stufe der Leiter. Das Problem war nur, dass sie genau diesen Beruf lernen wollte. Vermutlich würde sie nie ein großer Fan der Vorarbeiten werden, aber sie liebte es zu malern und zu tapezieren, sorgfältig die Ecken und Kanten zu bearbeiten, und es war einfach eine Frage der Ehre für sie, die Tapetenbahnen absolut perfekt aneinanderzufügen, sodass die Naht unsichtbar blieb.

Alles in allem gefiel ihr die Arbeit, nur die Gesellen waren ein bisschen anstrengend. Deshalb hatte sie am Vormittag auch einen Arztbesuch erfunden, damit sie nun in aller Ruhe arbeiten konnte, ohne ihre Musik und ihre Sticheleien. Wenn ich ausgelernt habe, dachte Christina, während sie die fette, hellgraue Spachtelmasse sorgfältig in einer gleichmäßigen Schicht auftrug, werde ich meinen eigenen Betrieb gründen. Einen kleinen Einfraubetrieb, mit dem man ganz gewöhnlichen Menschen helfen konnte, ihre Wohnungen zu verschönern. Sie sah schon vor sich, wie sie die Kunden bei Farbkombinationen und Tapetenmustern beriet, und sie stellte sich vor, wie es wäre, mit den Leuten eine Tasse Kaffee zu trinken, wenn die Arbeiten erledigt waren. Vielleicht könnte sie mit einem Schreiner zusammenarbeiten, der Regale und Schränke nach Maß baute. Am besten mit einer Schreinerin, dachte sie.

Nach einer Stunde machte Christina eine Pause. Sie stand am Fenster und pustete den Zigarettenrauch durch einen schmalen Spalt, durch den es eiskalt hereinzog, jetzt mit der Musik von einem alten Dixie-Chicks-Album in den Ohren. Etwas bewegte sich unten auf dem dunklen Hof, ein Schatten lief in Richtung Tor. Einen Augenblick später zeigte sich erneut das schräge Lichtrechteck in der Toröffnung, um sofort wieder zu verschwinden. Merkwürdig, dachte Christina. Sie hätte schwören können, die Letzte zu sein. Sie warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster und schloss beide Fensterhaken. Dann widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.

Gegen acht goss Christina die überschüssige Spachtelmasse zurück in den Eimer und schloss sorgfältig den Deckel. Dann reinigte sie den Spachtel, legte den Overall an die Eingangstür, zog Jacke und Skihose an und setzte ihren Fahrradhelm auf.

Auf dem Heimweg biss ihr die Kälte in die Wangen und drängte durch den Schlitz zwischen den Jackenärmeln und dem Saum ihrer Fäustlinge. Immerhin gab es jetzt kaum noch Verkehr, das schlimmste vorweihnachtliche Gedränge war überstanden. Auf dem ganzen Weg überlegte Christina, was sie ihrer Mutter schenken sollte, die sich wie gewöhnlich weigerte, einen Wunsch zu äußern. Ihr Lohn als Auszubildende ließ ihr keinen allzu großen Spielraum, doch eine Kleinigkeit würde sie sich schon leisten können.

Die Straße hinauf zum Skolevænget war steil und schneeglatt. Nach wenigen Hundert Metern stieg Christina ab und schob bis zum Haus ihrer Eltern. Es war einmal das schönste Haus der ganzen Straße gewesen; mit weißen Sprossenfenstern und schwarzlasierten Ziegeln. In den vergangenen Jahren hatte der Verfall allerdings seine Spuren hinterlassen. Es gab Risse im dunkelroten Putz, und die Weide im Vorgarten, die früher zur Weihnachtszeit mit Lichterketten geschmückt wurde, blieb jetzt ein Schatten zwischen anderen Schatten. Der Gartenweg war geräumt, aber nicht gestreut. Vor seinem Unfall war es die Aufgabe von Christinas Vater gewesen, doch nun musste ihre Mutter sich um all diese Dinge kümmern – und das fiel ihr bestimmt nicht leicht, dachte Christina mit einem Anflug von schlechtem Gewissen.

Nachdem sie ihr Fahrrad abgeschlossen hatte, blieb sie noch kurz vor der Haustür stehen, an der ein großer Adventskranz mit vergoldeten Zapfen hing. Das Symbol einer geborgenen, bürgerlichen Weihnacht. Ihre Mutter versuchte, die Traditionen aufrechtzuerhalten und würde sich über einen Besuch sicher freuen. Es war mehrere Tage her, seit Christina zum letzten Mal nach ihren Eltern gesehen hatte. Allerdings ertrug sie die in besorgte Bemerkungen verpackten, indirekten Vorwürfe ihrer Mutter nur schwer. »Hauptsache, du fühlst dich nicht einsam, Schatz« oder »Dein Vater ist ja so froh, dass du dir Zeit für ihn nimmst« oder »Ist doch wunderbar, dass du auch an etwas anderes denken kannst als an den ganzen Trott hier zu Hause.« Ihre Mutter verstand es ausgezeichnet, Schuldgefühle bei ihr zu wecken. Jedes Mal, wenn Christina die Wohnung ihrer Eltern verließ, zermarterte sie sich mit Selbstvorwürfen. Warum hatte sie keinen Freund? Sollte sie nicht mehr aus sich machen? Wieso ging sie eigentlich nie mit ihrem Vater im Rollstuhl für einen kleinen Ausflug in den Park? Weshalb half sie ihrer Mutter nicht ein bisschen mehr bei den täglichen Arbeiten? War sie vielleicht ganz einfach ein schlechter Mensch?

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