Doch er hört keinen Ton. Aus seiner Hosentasche zieht er den Türschlüssel, steckt ihn vorsichtig in das Schloss und dreht ihn dann nach rechts. Mit einem Klicken entriegelt das Schloss und Mr Lewis öffnet zaghaft die Tür.
»Du hast deine Töchter in ihrem Zimmer eingeschlossen?«, fragt der Arzt.
»Es musste sein«, antwortet ihm Mr Lewis kurz.
Durch den Schimmer der Kerzen erblickt er seine Kinder sofort, als er die Tür weit genug geöffnet hat. Sie liegen nebeneinander auf dem Teppich vor ihren Betten, die Augen geschlossen, ihre Körper und Kleider mit Blut verschmiert. Ihr Atem ist schwer, mit einem quietschenden Keuchen hebt und senkt sich stetig ihr Brustkorb. Die Arme halten sie auf ihrem Bauch gefaltet. Sie liegen einfach so da, als wären sie bereits tot.
»Was ist hier los?«, fragt Mr Bassett komplett überfordert und blickt dabei in die ebenso furchterfüllten Augen seines Freundes.
»Ich weiß es nicht«, antwortet der und tritt vorsichtig an die regungslosen Körper seiner Töchter heran.
Als würden sie friedlich schlafen, liegen beide vor seinen Füßen. Er kniet sich neben Mercy auf den Boden und streicht behutsam mit seiner Hand über ihre kurzen Haare hinweg.
»Meine geliebte Tochter… Mercy…«, stammelt er.
In dem Moment öffnet sie wieder ihre Augen, greift nach seinem Arm und bohrt ihre blutigen Fingernägel tief in diesem fest. Wie in Zeitlupe richtet sie ihren Körper auf, bis auch sie vor ihm auf dem Teppich kniet und ihrem Vater starr in seine Augen blickt. Sie spricht, aber ihre Worte sind nicht zu verstehen. Sie ergeben keinen Sinn, sind in irgendeiner fremden Sprache. Nur Laute, nichtssagende Silben und immer wieder schnalzt Mercy dabei zwischendurch mit ihrer Zunge. Ihr Kopf beginnt sich nach links zu drehen, so weit nach hinten, dass man denkt, die Halswirbel würden jeden Moment brechen. Dann dreht sie ihren Kopf langsam auf die andere Seite. Mr Lewis packt ihn seitlich mit beiden Händen, versucht ihn festzuhalten und ruft vergeblich nach dem Arzt, der völlig entsetzt mit dem Rücken gegen die Wand gepresst neben der Zimmertür steht und sich nicht traut, vom Fleck zu bewegen.
»Edward, jetzt komm schon und hilf mir!«, ruft Mr Lewis noch ein weiteres Mal.
Der Arzt stellt seine ohnehin nutzlose Medizintasche auf den Boden und nähert sich langsam der jüngeren Tochter, die nach wie vor friedlich auf dem Boden liegt. Er beugt sich über ihren Kopf nach unten und öffnet vorsichtig ihre Lider. Der Anblick ihrer verdrehten, weißen Augen lässt ihn für einen Augenblick zurückzucken. Schließlich legt er seine Finger auf ihr Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. Er blickt auf seine Uhr und zählt die verstreichenden Sekunden.
Plötzlich richtet sich auch Elizabeth vor ihm auf, die Augen nach wie vor geschlossen. Wie ihre Schwester gibt sie seltsame Laute von sich. Der Arzt weicht erschrocken von ihr, woraufhin sich Elizabeth zur Seite dreht und auf allen Vieren durch den Raum kriecht, bis sie sich wieder unter ihr Bett ins Dunkel zurückzieht, wo sie ihr Vater zuvor gefunden hat. Mr Lewis versucht nach wie vor Mercy unter Kontrolle zu halten, damit sie sich selbst nicht verletzt, oder durch das schmerzliche Verdrehen ihres Kopfes ihr zartes Genick bricht.
»Was machen wir jetzt?«, fragt er seinen Freund Edward.
»Ich weiß es nicht, Richard. Auch wenn ich irgendwie weitere Untersuchungen bei deinen Töchtern durchführen könnte, bin ich mir sicher, dass ich ihnen nicht helfen kann.«
»Was würdest du tun, wenn es deine Töchter wären?«, fragt er verzweifelt.
»Ich würde Cotton Mather holen«, antwortet ihm Mr Bassett ohne lange zu überlegen.
»Den Pfarrer? Wie könnte er uns helfen?«
»Deine Töchter sind nicht krank. Diese Laute, diese Geräusche, Richard. So etwas habe ich noch nie gehört. Ich habe Angst vor ihnen. Nichts Irdisches ist es, das deinen Kindern widerfahren ist. Glaub mir. Der Einzige, der ihnen helfen kann, ist ein Geistlicher!«
»Dann geh und hol ihn!«, bittet er den Arzt.
»Wo soll ich ihn zu dieser Uhrzeit finden?«
»Dort wo er jeden Tag zu dieser Zeit zu finden ist: in der Dorfkneipe. Geh jetzt und beeil dich, Edward!«, fordert er ihn auf.
In dem Moment reißt sich Mercy von ihm los und kriecht zu ihrer jüngeren Schwester unter deren Bett. Sie fauchen und stöhnen, aber bleiben darunter versteckt. Der Arzt lässt seine Tasche im Zimmer zurück, rennt die Treppe nach unten und schlägt die Haustür hinter sich zu.
Nur wenige Minuten vergehen, bis er wieder mit Cotton Mather das Haus der Familie Lewis betritt, aber dem wartenden Vater im Obergeschoß kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Cotton Mather, ein puritanischer Geistlicher und Gelehrter, der als Pfarrer der Gemeinde Salem für Recht und Ordnung sorgt. Er ist aber auch ein religiöser Fanatiker, der sich ständig vom Teufel selbst bedroht fühlt. In seinen Predigten spricht er Sonntag für Sonntag vom Kampf der zwischen Gottes auserwähltem Volk und Satan selbst herrscht und gießt dadurch immer wieder aufs Neue Öl ins Feuer im Krieg gegen die Indianerstämme. In seinen Augen sind die Puritaner die Auserwählten, das reine, fehlerlose Volk Gottes und alles und jeder andere wird von ihm in seiner Stadt nicht geduldet.
»Richard. Was ist hier los?«, fragt der Pfarrer Mr Lewis, als er vor Mr Bassett das Schlafzimmer der Mädchen betritt. »Edward wollte oder konnte mir nichts Genaues erzählen. Er meinte lediglich, dass du so schnell wie möglich meine Hilfe benötigen würdest.«
»Danke für dein Kommen, Cotton. Es geht aber nicht um mich, sondern um meine lieben Töchter.«
»Wo sind sie denn?«, fragt der Pfarrer, während sich Mr Bassett seine Medizintasche umklammernd nicht von der Tür wegbewegt.
In dem kurzen Moment der Stille hört Cotton Mather die Geräusche, die unter Elizabeths Bett hervorkommen. Er geht langsam auf sie zu, an Mr Lewis vorbei und kniet sich auf den Teppich daneben. Als er unter das Bett sieht und die beiden Mädchen erblickt, kriechen diese rückwärts hinter dem Bett hervor, spucken und fauchen in Richtung der drei Männer und kratzen sich ihre getrockneten Wunden wieder blutig. Cotton Mather schreckt davor aber nicht zurück, scheint etwas Derartiges nicht zum ersten Mal zu erleben. Er bittet Mr Lewis Elizabeth festzuhalten, stellt sich gefasst vor Mercy, packt sie an den Schultern und blickt ihr dabei tief in die Augen.
»Wer bist du?«, stellt er ihr die erste Frage.
Doch Mercy steht nur vor ihm und lacht. Immer lauter wird ihr Gelächter. Sie beugt dabei ihren Kopf weit nach hinten, sodass sie beinahe selbst an ihrer eigenen Zunge erstickt.
Cotton Mather packt sie hinten im Genick, zieht ihren Kopf direkt zu seinem nach vorne und sagt erneut.
»Ich befehle dir, mir sofort deinen Namen zu nennen, wer auch immer du bist, der in dieses unschuldige Mädchen gefahren ist!«
Daraufhin stoppt das grauenhafte Lachen. Mercy presst ihre blutigen Lippen zusammen und beginnt zu weinen. Tränen fließen wie dünne Bäche über ihre Wangen. Mather lässt sie los.
»Mich kannst du nicht täuschen«, fährt Cotton Mather fort. »All diese Tränen werden dir nichts bringen.« Er holt seine Bibel aus der Tasche und umgreift das goldene Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hängt. »Im Namen Gottes, unseres allmächtigen Vaters, befehle ich dir, uns deinen Namen zu nennen, Dämon«, ruft er.
Mercy verstummt, gibt keinen Laut mehr von sich. Kein Weinen, kein Schluchzen, keine Bewegung. Elizabeth, die von ihrem Vater fest umklammert neben Mercy steht, öffnet langsam ihren Mund, beginnt zu würgen, als würde irgendein Fremdkörper in ihrem Hals feststecken.
»Ich bin kein Dämon«, sagt sie plötzlich und dabei flammen zwei rote Punkte in ihren Augen auf.
»Wer bist du dann?«, fragt Cotton Mather.
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