»Doch, Victor, bitte. Komm mit mir nach Hause«, versucht es seine Frau ein weiteres Mal.
Victor greift nach ihrer Hand, mit der sie ihn nach wie vor am Arm festhält. Er löst sich von ihrem Griff und wendet sich von ihr ab.
»Geh nach Hause, Eleanor, und lass mich gefälligst in Ruhe. Hörst du! Ich bin dein Mann! Du sagst mir nicht, was ich zu tun, oder zu lassen habe. Vergiss das bloß nicht!«, geht er in die Richtung davon, aus der zuvor Eleanor gekommen war, greift nach ein paar Schritten nach einer Türklinke, zieht daran und verschwindet in dem Haus an der Straßengabelung.
Eleanor wischt sich die Tränen aus den Augen und streift die Hände an ihrer Schürze ab. Wie konnte sie nur glauben, dass sie ihren Mann überreden könnte, mit ihr nach Hause zu ihrer Tochter zu gehen, anstatt zu den anderen Trunkenbolden in die Kneipe? Wie blauäugig von ihr zu denken, dass man mit Victor auch nur annähernd ein vernünftiges Gespräch führen könnte. Immer ist er betrunken, immer hat er den Whiskey mit dabei, für den er seinen letzten Penny geben würde. Aber Eleanor wird daran nicht zerbrechen. Schon zu lange, schon zu viele Jahre kennt sie Victor, ist mit ihm verheiratet, kennt sein Wesen in- und auswendig. Und egal wie oft sie von ihm enttäuscht wird, egal wie oft er sie im Rausch bedroht, oder auch von Zeit zu Zeit handgreiflich wird, sie erinnert sich noch an die Zeit zurück, als sie sich kennen und lieben lernten. Damals war Victor ein anderer Mensch. Lieb und einfühlsam. Und obwohl davon heute fast nichts mehr übrig ist, ist es dieser andere Victor, der in Eleanors Herzen seinen Platz gefunden hat. Diese alten Gefühle zaubern ihr auch jetzt ein Lächeln in ihr Gesicht. Eleanor macht sich auf den Heimweg zu ihrer Tochter Dahlia, die sich während ihrer Abwesenheit um die Hütte und um den Haushalt gekümmert hat. Eleanor bleibt nichts anderes übrig. Sie muss arbeiten gehen, um das Wenige, das sie benötigen und das sie sich nicht selbst anbauen können, zu kaufen. Deshalb arbeitet sie als Dienstmagd bei der Familie Lewis am anderen Ende des Dorfes, in dem zweistöckigen Haus mit den vier Giebeln.
Die Familie Lewis zählt zu den angesehensten bürgerlichen Familien in Salem, mit einem Grundbesitz, der von Salem beginnend entlang der Massachusetts Bay bis fast hinunter nach Boston reicht. Das Familienoberhaupt, Richard Lewis, ist ein überaus vornehmer Mann, der auch Eleanor gegenüber Benehmen und Anstand zeigt. Dessen Frau allerdings versucht mit allen Mitteln Eleanor im Haushalt das Leben schwer zu machen. So äußert sie laufend schier unerfüllbare Wünsche nach Mahlzeiten, deren enthaltene Lebensmittel für Eleanor unmöglich zu besorgen sind und genießt dann Eleanors verzweifelte Entschuldigung für ihre angebliche Nichtsnutzigkeit und Verschwendung an menschlichen Daseins. Außerdem wäre da noch das Martyrium des täglichen Bades, bei dem die Wassertemperatur einmal viel zu heiß und dann wieder empfindlich zu kalt zu sein scheint, obwohl Eleanor das Wasser bei jedem Mal genau mit derselben Temperatur in die Wanne laufen lässt. Auch die zwei Kinder der Familie Lewis sind zwei verwöhnte Gören. Zwei Mädchen. Mercy und deren jüngere Schwester Elizabeth. Auch sie stehen, bezogen auf ihre Sitten und Anstalten, ihrer Mutter in nichts nach, behandeln ihre Dienstmagd wie eine Sklavin, beleidigen sie, so oft sie nur können und beschmutzen mit voller Absicht alle Böden und Teppiche im Haus und kichern dann belustigt, während sie Eleanor beobachten, wenn diese auf ihren geschwundenen Knien über den Boden kriecht, um wieder Ordnung zu schaffen, bevor am Abend Mr Lewis das Haus betritt.
Doch an diesem Tag hat Eleanor die Mädchen kaum zu Gesicht bekommen. Sie haben den ganzen Tag über ihr Zimmer nicht verlassen. Auch ihr Essen haben beide verweigert, als Eleanor mit gefüllten Tellern vor ihrem Zimmer stand. Mrs Lewis war nicht zu Hause. Sie fuhr vor zwei Tagen zu ihrer Schwester nach Boston, um sich von den Strapazen des Lebens auf dem Land zu erholen, wie sie Eleanor gegenüber erwähnt hatte.
Als Eleanor am heutigen Tag schließlich das Haus der Familie Lewis verließ, war Richard Lewis noch nicht heimgekehrt. Sie konnte ihm also nicht vom Verhalten seiner Töchter erzählen. Das Abendessen ließ Eleanor auf dem Herd, sodass es für ihn warm bleibt. Mehr konnte sie nicht tun.
»Mercy? Elizabeth? Wo seid ihr?«, ruft Richard Lewis die Treppe nach oben ins zweite Geschoß, als er keines seiner Mädchen in der Küche oder im Lesesalon antrifft. »Eleanor, sind Sie noch hier?«
Doch niemand antwortet ihm. Offenbar ist er alleine im Haus. Er geht zurück in die Küche, hebt den Deckel vom Topf auf dem Herd und schöpft sich den Eintopf mit Hühnerfleisch und herrlich duftendem Gemüse in einen Teller. Eine Scheibe frisches Brot schneidet er sich selbst vom Laib und setzt sich an den Tisch. Eleanor hat ihm auch die Zeitung an seinen Platz gelegt. Gut. Heute war er ohnehin den ganzen Tag zu beschäftigt, um die politischen und wirtschaftlichen Nachrichten aus Boston zu lesen. Dafür bleibt jetzt noch genug Zeit. Er schlürft den Eintopf Löffel um Löffel aus seinem Teller und blättert Seite um Seite durch die Zeitung.
Noch immer ist es völlig ruhig im Haus. Seine Frau ist in Boston, Eleanor scheinbar schon nach Hause gegangen. Kein Wunder, es war sehr spät heute, als er es selbst endlich aus dem Büro der Verwaltung geschafft hat. Aber wo sind seine Kinder? Seine Töchter? Normalerweise begrüßen sie ihn immer überschwänglich, wenn er nach Hause kommt. Selbstverständlich, weil sie etwas von ihm haben wollen. Meistens Geld. Aber trotzdem. Wo sind sie?
Er steht auf, lässt sein Geschirr auf dem Esszimmertisch zurück und geht dann die Holztreppe nach oben. Die Mädchen teilen sich ein großes Zimmer im Obergeschoß. Nicht etwa, weil im Haus nicht genügend Zimmer vorhanden wären. Nein. Sie wollten das so.
Vor der Zimmertür bleibt Mr Lewis stehen und klopft an.
»Mercy? Elizabeth?«, fragt er erneut.
Doch auch jetzt antwortet ihm niemand. Er greift nach dem Türknauf und dreht ihn vorsichtig nach links, um die Tür zu öffnen. Im Raum ist es stockdunkel. Es ist zwar schon spät, aber um diese Zeit schlafen seine Kinder auf keinen Fall. Immerhin sind sie fast erwachsen, junge Frauen. Er geht zurück auf den Flur, nimmt eine der Kerzen aus der Halterung und geht damit zurück ins Zimmer der Mädchen, um die dortigen Kerzen damit anzuzünden.
Als er zurück zum Schlafzimmer geht, hört er auf einmal ein kurzes Klicken gefolgt von einem langanhaltenden, leisen Knarren. Die Tür ins Zimmer der Mädchen öffnet sich langsam so weit, bis sie seitlich gegen die Wand schlägt.
»Mädchen? Hört auf mit diesem Unfug!«, sagt Mr Lewis draußen auf dem Flur stehend.
Doch wieder ist kein Laut zu vernehmen. Im ganzen Haus ist es totenstill. Mr Lewis macht noch ein paar Schritte auf die Zimmertür seiner Kinder zu und tritt vorsichtig ein. Kein Licht, kein Geräusch. Nichts. Er sieht sich in alle Richtungen um, kann aber wegen des gedämpften Scheins der einzelnen Kerze in seiner Hand nur verschwommene Umrisse erkennen. Deshalb schreitet er auf die Anrichte neben dem Kamin zu, um die dortigen drei Kerzen in der Halterung zu entflammen.
Auf einmal hört er das Holz des Fußbodens hinter sich knarren. Erschrocken dreht er sich um, doch er sieht niemanden. Keine Schatten, keine Bewegungen, keine menschlichen Umrisse. Nicht einmal die Hauskatze, die sonst nie von der Seite seiner Mädchen weicht, scheint heute in diesem Zimmer zu verweilen. Er richtet seinen Blick wieder auf den Kerzenhalter vor ihm und entfacht die Dochte. Es erstrahlt ein etwas kümmerliches Licht, reicht aber, um die Winkel und Ecken des großen Schlafzimmers auszuleuchten.
Ein seltsames Geräusch dringt an Mr Lewis' Ohr. Eine Art Schnalzen im Sekundentakt. Einmal etwas lauter, dann wieder etwas leiser, so als würde man die verstreichende Zeit zählen. Mit einem Mal wird dieses Schnalzen schneller. Ein Fauchen mischt sich zwischen diese Laute. Sie scheinen sich Mr Lewis mit jedem Ton etwas mehr zu nähern. Er ist kein furchtsamer Mann. Das war er noch nie, denn mit seiner stattlichen Gestalt hatte er bislang auch überhaupt keinen Grund, vor irgendetwas in seinem Leben zurückzuschrecken.
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