Die Kerze vom Flur hält Mr Lewis fest in seiner linken Hand, als er sich umdreht und in die linke Ecke des Zimmers blickt, von wo aus dieses furchteinflößende Geräusch zu kommen scheint. Er sieht nichts, ist sich aber sicher, dass dieses Schnalzen von der immer noch verdunkelten Ecke neben Mercys Bett kommt. Mit ein paar verhaltenen Schritten nähert er sich dieser Stelle, doch als er am Bett von Elizabeth vorbeikommt, greift plötzlich etwas nach seinem Bein und zieht daran. Eine Hand streckt sich unter dem Bett hervor. Die Fingernägel abgebrochen, blutig und die Handflächen völlig aufgekratzt.
»Elizabeth?«, schreckt Mr Lewis zurück und will sich gerade mit seinem Oberkörper nach unten beugen, um unter das Bett zu blicken.
Da sieht er auf einmal, dass sich der weiße, bodenlange Vorhang nach vorne wölbt. Das Geräusch von vorhin ist verstummt. Ein verächtliches Kichern dringt stattdessen an seine Ohren.
»Hört sofort auf damit!«, ruft Mr Lewis.
Doch das Gelächter wird immer lauter. Der Vorhang fliegt auf einmal zur Seite und Mr Lewis erblickt seine älteste Tochter dahinter.
»Was hast du dir bloß angetan?!«, stammelt er erschrocken, als seine Tochter vor ihn tritt.
Ihr Haar ist bis auf wenige Zentimeter abgeschnitten, ihre Haut im Gesicht und entlang der Arme ist mit tiefen Rissen und Kratzern übersät, das Blut teilweise geronnen, teilweise noch feucht im Kerzenlicht glänzend. Sie trägt nichts am Leib als ihr knöchellanges, schwarzes Nachthemd. Eine der Träger ist gerissen und hängt über ihre Schulter nach unten.
»Mercy, was ist los? Sprich bitte mit mir!«, fleht sie ihr Vater hilflos an.
Doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Sie bleibt mit kurzem Abstand vor ihm stehen und beginnt wieder mit der Zunge im Sekundentakt zu schnalzen. Mr Lewis will auf sie zugehen, doch der unter dem Bett hervorragende Arm hält sein Bein zu stark fest. Er beugt sich nach unten und sieht seine jüngere Tochter auf dem Rücken unter dem Bett liegen, ihren Kopf nach hinten geneigt und mit blutverschmiertem Gesicht. Die Flamme der Kerze in seiner Hand erlischt. Er legt sie auf den Holzboden neben sich und greift nach Elizabeths Arm, um sie unter dem Bett hervorzuziehen. Als Mr Lewis in ihr Gesicht blickt, sieht er, dass Blut aus ihrem Mund über ihren Hals hinweg fließt. Doch weder sie noch Mercy scheinen die Schmerzen, die irgendjemand ihren Körpern zugefügt hat, zu spüren. Sie sagen kein Wort, kichern stattdessen, oder geben seltsame Laute von sich. Mr Lewis greift nach seinem Stofftaschentuch in seiner Hose und wischt damit vorsichtig über Elizabeths Hals, um das Blut davon zu entfernen. Dann streicht er damit über ihre Lippen. Diese sind aufgeplatzt, eine tiefe Furche teilt ihre Unterlippe in zwei Hälften.
»Oh, meine arme Elizabeth. Was wurde dir bloß angetan?«, flüstert Mr Lewis.
»Bitte nicht, Sie tun mir weh!«, ruft Elizabeth auf einmal und beißt sich selbst erneut auf ihre Unterlippe, wodurch noch mehr Blut aus dieser herausfließt.
»Elizabeth! Hör damit auf! Es ist niemand mehr hier, der dich verletzen könnte.«
Elizabeth reißt sich aus der Umarmung ihres Vaters los und steht langsam auf. Ihre Augen sind weit aufgerissen und beginnen sich langsam nach hinten zu drehen, bis nur noch ein milchiges Weiß davon sichtbar ist. Mercy steht auf der anderen Seite des Bettes, hat sich noch immer keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, schnalzt verächtlich mit ihre Zunge, kichert und kratzt sich mit ihren Fingernägeln immer wieder über ihre blutigen Unterarme. Elizabeth neigt ihren Kopf zur Seite, so weit, dass sie ihn auf ihrer Schulter ablegen kann. Dann geht sie zu ihrer Schwester, stellt sich neben sie und beginnt an ihren Haaren zu zerren. Strähne um Strähne reißt sie sich ihr wunderschönes, blondgelocktes Haar mit den Wurzeln aus ihrem Kopf. Mr Lewis steht auf, rennt zu ihr hinüber und versucht sie davon abzuhalten. Doch seine kleine, unschuldige Tochter dreht sich zu ihm um, blickt ihm mit ihren nach hinten gewandten Augen an, schreit fürchterlich laut auf, dass es Mr Lewis in den Ohren sticht und spuckt ihrem Vater dann mitten ins Gesicht.
Mr Lewis ist überfordert. Was geht hier vor sich? Was ist mit seinen geliebten Mädchen los? Und wer hat ihnen diese schrecklichen Wunden zugefügt? Oder waren sie das selbst? Wieso sollten sie das tun? Er weiß keinen anderen Ausweg: Er muss Hilfe holen. Mr Lewis geht in Richtung Tür, greift nach dem Zimmerschlüssel, der auf der Anrichte liegt, tritt auf den Flur und schließt seine Kinder in ihrem Zimmer ein. Zu ihrem Schutz und zu seinem. Er muss Hilfe holen, so schnell wie möglich.
Beim Vorbeigehen schnappt er sich seinen Mantel, wirft ihn sich um die Schultern und läuft die Nebengasse hinunter in Richtung Hauptstraße. Es hat zu regnen begonnen. Gleichzeitig bläst ein frostiger Wind durch Salem, wodurch sich die niedrigen Temperaturen noch kälter auf seiner Haut anfühlen. Gott sei Dank. Es brennt noch Licht in dem grüngestrichenen Haus an der linken Seite. Ohne zu klopfen reißt er die Tür auf und steht keuchend vor einem erschrockenen, kleinen Mann mit weißem Kittel und einer winzigen Lesebrille, die er bis an seine Nasenspitze hinuntergeschoben hat. Er ist gerade dabei, die Glasfläschchen mit diversen Kräutern zu beschriften und feinsäuberlich in das Regal zu sortieren.
»Richard, du meine Güte! Was ist denn los?«, fragt er den vor ihm stehenden, nach Luft schnappenden Mann im Pelzmantel und schiebt sich seine Brille dabei wieder ein Stück nach oben.
»Schnell! Du musst sofort mitkommen, Edward! Irgendetwas stimmt nicht mit meinen Töchtern«, stammelt er.
»Was soll das heißen: Irgendetwas stimmt nicht mit deinen Töchtern? Was fehlt ihnen denn? Haben sie Fieber, so wie zurzeit viele Einwohner unseres Dorfes? Das liegt am Wetter. Das weißt du doch, Richard. Ich gebe dir ein paar Kräuter mit und eine Salbe. Du wirst sehen, im Handumdrehen geht es…«
»…Edward, bitte komm mit! Es ist kein Fieber! Dabei helfen deine Kräuter und Salben nicht. Es muss etwas anderes sein. Etwas viel Schlimmeres. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«
»Richard, wovon redest du da bloß?«
»Komm einfach mit und sieh mit eigenen Augen, Edward«, packt er ihn am Arm und zieht ihn in Richtung Tür.
»Nicht so schnell. Was soll ich mitnehmen?«
»Ich habe keine Ahnung. Pack ein, was auch immer du findest. Aber beeil dich!«
Richard Lewis läuft die Gasse entlang vor Edward Bassett, dem einzigen Arzt in der Umgebung, her. Kein weiteres Wort hat er mehr über den Zustand seiner Mädchen ihm gegenüber erwähnt. Er wüsste nicht, was er auf seine Fragen antworten sollte, wie er das, was er vorhin erlebte, auch nur annähernd glaubhaft wiedergeben sollte. Wenn ihm jemand Derartiges erzählen würde, würde er ihn auslachen, oder schlimmer noch: Er würde ihn einsperren lassen, damit diese Person seinen Mitmenschen aufgrund der offensichtlich geistigen Verwirrtheit keinen Schaden zufügen kann.
Nur noch wenige Meter bis zu seinem Haus. Mr Lewis dreht sich um. Mr Bassett folgt ihm mit diversen Kräutern, Salben, anderen Arzneien und seinen Hilfsmitteln für Untersuchungen in einer Tasche. Mr Lewis betritt wieder sein Haus, hängt seinen Mantel auf den Haken neben der Tür und wartet dann auf den Arzt. Er nimmt ihm seine Jacke ab und blickt in dessen etwas ängstliches Gesicht.
»Bist du bereit?«, fragt ihn Mr Lewis.
»Ich denke schon. Ich werde mein Möglichstes tun, Richard«, antwortet er seinem alten Freund und nimmt seinen Hut ab, um ihn Mr Lewis zu reichen.
Dieser geht die Treppe voran nach oben, Mr Bassett dicht hinter ihm. Vor dem Zimmer der Mädchen bleibt er stehen, presst sein Ohr gegen die Tür. Es ist völlig ruhig. Nichts zu hören.
»Richard?«, fragt der Arzt.
»Leise«, hält Mr Lewis seinen Zeigefinger an die Lippen.
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