Zur Existenz und Nichtexistenz des Bösen
Über die Bilder des Bösen, die Macht der Gedanken und die Relativierung eines Mythos
Wissenschaftlicher Aufsatz erschienen im August 2020 als e-book bei epubli
Dr. phil. Frank Reinecke
In unseren Gedanken, Vorstellungen und Erfahrungen spielt uns das Böse mitunter übel mit, es erschaudert uns, es weckt Ängste und Befürchtungen in unserem Innersten. In zahlreichen Verfilmungen, Büchern, Erzählungen und Erfahrungsberichten beschreiben Menschen ihre Begegnungen und Ihre Vorstellungen vom Bösen facettenreich und mit einer Intensität, die viele Menschen früher oder später in die Auseinandersetzung mit der Frage der Existenz oder Nichtexistenz des ‚Bösen’ führt. Menschen bringen das Böse dabei mit anderen Menschen, Tieren oder gar mit Naturkatastrophen in Verbindung, sie verknüpfen es mit dem Schicksal oder sehen es als Geist in Dingen, Gegenständen oder Orten innewohnen. Das Böse trifft uns dann, wenn wir nicht darauf vorbereitet sind. Das Böse ist nicht berechenbar, es setzt Gesetzmäßigkeiten außer Kraft, es entbehrt jedweder Vernunft und es setzt das Nichtvorhandensein eines Gewissens voraus. Diese und andere Kriterien sorgen dafür, dass Menschen sich hinsichtlich der Existenz des Bösen sicher sind und es als reale Bedrohung betrachten.
Erkenntnisse aus der buddhistischen Lehre
Der Buddhismus lehrt uns, dass Körper, Gegenstände und all die Dinge, die wir in unserer Umgebung wahrnehmen, an sich leer bzw. vom Selbst gelöst sind. Erst der Geist eines Wesens haucht ihnen Leben ein und macht sie damit zu Lebewesen und Menschen. Insofern lässt sich durchaus darüber philosophieren, ob der Geistesinhalt einer stofflichen Hülle ein guter, neutraler oder böser Geist sein kann. „Die postulierte Illusion der sich von anderen Subjekten und der Welt abgrenzenden personalen Identität des Subjekts soll aus buddhistischer Sicht unbedingt in der eigenen meditativen Erfahrung überprüft werden, um dann durch die gewonnene Einsicht in die Selbstlosigkeit der Befreiung zuzuarbeiten [...] Ein erleuchtetes Wesen ist hiernach dadurch charakterisiert, dass es ausschließlich unverfälschte sinnliche, aber vor allem solche geistigen, nicht-konzeptuellen Wahrnehmungen hat, in der die Selbstlosigkeit bzw. Leerheit von Subjekt und Objekt [...] evident ist (Paetow 2004).“ Nach dieser buddhistischen Erkenntnislehre stellt sich weniger die Frage nach dem Bösen im personalen, dinglichen oder imaginärem Gegenüber, sondern mehr nach dem Umgang mit den eigenen Geisteszuständen und deren Wandlungsfähigkeit. Doch wenden wir uns zunächst wieder dem vermeintlich ‚Bösen’ zu. Menschen werden physisch, psychisch und seelisch durch andere Menschen gedemütigt, gekränkt, missbraucht, gefoltert, gequält oder getötet. Ihnen entstehen durch andere Lebewesen körperliche, psychische und seelische Schäden oder sie verlieren durch Naturgewalten und Unfälle ihr Leben. Bei diesen Szenarien liegt wohlmöglich für Beteiligte und Beobachter der Schluss nahe, dass hier das Böse oder ein böser Geist mit im Spiel oder aktiv am Werke sein muss.
Im Buddhismus existiert das Böse nicht und stattdessen unterscheidet diese Erfahrungswissenschaft drei Wesensmerkmale der Negativität, die einen menschlichen Geist vergiften können. Ich-Bezogenheit, Gier und Hass wirken in bestimmten Kontexten und Situationen auf Menschen ein und können sich bis zur Gewohnheit in ihnen verfestigen. Durch Achtsamkeit, Geistestraining und Meditation können Menschen diese negativen Geisteszustände jedoch wandeln und heilen. Auf Geistesgifte zu achten und ihnen die Kraft zu nehmen bedeutet im Umkehrschluss durch eine andere Haltung und befriedende Glaubensgrundsätze negative Einflüsse schrittweise zu neutralisieren und zu überwinden. Anders gesagt, können sich Menschen in eine Lage versetzen, aus der sie sich für das Gute entscheiden können. Diese Erkenntnis hat, konsequent zu Ende gedacht, die Nichtexistenz des Bösen zur Folge – sie löst das Böse faktisch auf. Das Böse ist nicht mehr existent, wenn sich Menschen von ihren Anhaftungen oder anders gesagt aus ihren negativen Gedankenbildern lösen, sie bewältigen. „In der buddhistischen Lehre hingegen geht es gerade darum, sich von allen Bedürfnissen zu befreien, jegliche Anhaftung oder Ablehnung loszulassen. Buddha begründet diesen Teil seiner Lehre damit, dass Anhaftung und Verlangen die Ursache allen Leidens auf der Welt sind: Weil alles vergänglich ist, trägt jedes Erlangen der begehrten Gegenstände oder Zustände den Keim einer Enttäuschung schon in sich (Pfaff 2010).“
Dennoch suchen wir nach Erklärungen für verstörende Ereignisse und Taten, von denen wir in Zusammenhang mit menschlichen Abgründen wie Missbrauch, Folter und Gewalt in jeglicher Ausprägung oder gar Mord erfahren. In der täglichen, medialen Berichterstattung werden wir mit Gräueltaten und anderen Schreckensmeldungen konfrontiert. Damit wir grausame Erlebnisse und Meldungen überhaupt verarbeiten können, kann uns das vermeintlich Böse als Adressat, Ursache oder Grund in der Auseinandersetzung mit Schmerz, Leid und schrecklichen Geschehnissen aber auch helfen. Dies geschieht indem Menschen durch das Böse angstvolle und traumatisierende Erfahrungen, das unfassbar Grauenvolle und das uns Fremde in unserem Leben überhaupt erst akzeptieren und annehmen können. Da das (un-)scheinbar Böse draußen in der Welt sein Unwesen treibt und sich im persönlichen Umfeld weniger zeigt, können sich Menschen auch entscheiden, ob sie sich in diese Welt begeben oder das Böse durch eine imaginäre Grenze für sich berechenbar und operationalisierbar machen. Durch diese differenzierte Sichtweise verliert das Böse nicht nur den persönlichen Bezug zum einzelnen Menschen, es kann auch besser in ein Wertesystem implementiert und als Gedankenkonstrukt relativiert werden. „ Das Böse seinerseits erscheint oft als das Andere, als das Fremde schlechthin, als das, was so anders ist, dass man sich damit gar nicht identifizieren kann (Erdheim 1994).“ Als ein Konstrukt unserer Gedanken geben wir dem Bösen in unserem Bewusstsein einen Raum, den es in den Augen anderer Menschen sowie im realen Leben tatsächlich nicht einnimmt. Wir erschaffen uns eine Perspektive, aus der wir bspw. eine vermeintliche böse Tat auch tatsächlich als böse Tat bewerten. Wir entwickeln unsere Theorien über das Böse, die wir durch Argumente untermauern, sie gegenüber anderen Menschen kommunizieren und mögliche Erscheinungsformen des Bösen, wenn nötig, auch verteidigen. Von der Entwicklung einer Vorstellung hin zu ihrer Bewertung bis zum abschließenden Urteil – der Existenz oder Nichtexistenz des Bösen.
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