»Wann kommst du heute nach Hause, Mutter?«, will Dahlia wissen, während sie zwei hölzerne Schalen und Löffel auf den Esszimmertisch neben der brennenden Kerze platziert.
»Heute ist Waschtag bei Familie Lewis, das weißt du doch. Das heißt, ich komme bestimmt erst wieder, wenn die Sonne bereits untergegangen ist«, antwortet ihr Eleanor, stellt die Schüssel mit dem kochenden Brei auf den von Victor selbst gezimmerten Tisch und klatscht beiden eine Portion davon in ihre Schalen. »Ich habe gestern gesehen, dass das gehackte Holz allmählich zu Neige geht. Ums Haus liegen noch ein paar größere Blöcke. Bitte hacke diese in kleine Scheiter, damit sie in die Feuerstelle passen und staple sie auf der Veranda. Außerdem werde ich heute keine Zeit haben, um Salz und Schmalz vom Markt zu holen. Ich lege dir ein paar Pence bereit, bitte hol du die Zutaten. Ich bringe am Abend wieder Wasser aus dem Dorf mit.«
»Wieso kann Vater nicht das Holz hacken?«, fragt Dahlia.
»Dein Vater fährt so wie an jedem Tag hinaus aufs Meer, um zu fischen. Wenn er nach Hause kommt, ist es bereits zu dunkel, um Arbeiten im Freien zu verrichten. Das verstehst du doch, oder?«
Dahlia nickt. Sie weiß, dass ihre Mutter jede Unterstützung dringend gebrauchen kann und dass sie diese von Victor nicht bekommen wird. Aber wenn sie draußen im Garten Holz hackt, oder sich um das kleine Gemüsegärtchen kümmert, sieht sie die Kinder anderer Familien, die in deren Gärten herumlaufen, spielen, lachen und sich mit schönen Dingen die Zeit vertreiben. Dafür hat Dahlia keine Zeit, hatte sie noch nie. Schon als kleines Mädchen musste sie ihrer Mutter im Haushalt helfen, wo sie nur konnte. Und wenn sie zu Hause alles auf Vordermann gebracht hatte, musste sie manches Mal ihre Mutter zur Familie Lewis begleiten und ihr dort zur Hand gehen bei allen Tätigkeiten, die so anfallen. Dahlias Leben ist nicht einfach, aber die Liebe ihrer Mutter hilft ihr dabei, die Tage durchzustehen. Immerhin ist sie jetzt schon vierzehn Jahre alt. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis ihr einer der Jungen aus dem Dorf den Hof machen wird, sie ihn heiratet und selbst eine Familie gründet.
Vor ihrer Hütte breitet sich auf einmal ein orangener Lichtkegel aus. Erzürnt schreiende Stimmen mehrerer Menschen sind zu vernehmen. Eleanor tritt ans Fenster und erblickt eine Menschenmenge, die mit Fackeln, Äxten und Mistgabeln bewaffnet, den Weg zu ihrer Hütte entlanggeht und sich vor ihrem Zaun versammelt. In vorderster Reihe marschiert Cotton Mather, der eine Bibel hoch in die Luft hält.
»Eleanor Clarke!«, ruft er laut ihren Namen, »verlasse dein Haus und stell dich deiner Verantwortung.«
»Was ist da draußen los, Mutter?«, fragt Dahlia.
»Ich weiß es nicht. Geh sofort in den Schlafraum und egal was passieren möge, du kommst auf keinen Fall daraus hervor! Versteck dich, so gut du kannst, bewege dich keinen Millimeter und gib keinen Laut von dir! Hast du mich verstanden?«, blickt sie ihrer verängstigten Tochter auffordernd in die Augen.
Dahlia steht vom Tisch hoch, stellt den Brei zurück auf den Ofen, damit er nicht auskühlt und läuft dann in die Schlafkammer, um sich unter dem Bett ihrer Eltern zu verkriechen.
»Eleanor Clarke! Wir wissen, dass du dich in dieser Hütte aufhältst. Tritt auf die Veranda! Tritt vor die ehrwürdigen Einwohner unseres geliebten Salems!«, ruft Cotton Mather, der durch das Zauntürchen hindurchgetreten ist und mittlerweile vor den Stufen der Veranda steht, hinter ihm eine immer weiter anwachsende Menschenmenge, die völlig aufgebracht mit ihren Fackeln und Werkzeugen herumhantiert.
Eleanor weiß nicht, was vor ihrer Hütte vor sich geht. Was wollen diese Menschen von ihr? Wieso sind sie dermaßen wütend? Sie hat Angst, dass sie in ihrem Zorn mit deren Fackeln ein Feuer vor ihrer Holzhütte oder auf ihrer Veranda entfachen würden. Eleanor streicht sich deshalb die Schürze ihres Kleides zurecht, zupft noch ein wenig an den Seiten ihrer weißen Haube, unter derer sich ihre feinsäuberlich hochgesteckten Haare befinden und öffnet dann die Tür. Vorsichtig wagt sie den ersten Schritt hinaus auf die Bretter der Veranda. Cotton Mather tritt noch weiter aus der Menge hervor, steigt auf die erste Stufe und drückt sich die Bibel gegen seinen beleibten Oberkörper.
»Eleanor Clarke, hiermit verhafte ich Sie im Namen des Volkes von Salem.«
»Verhaften? Mich? Weshalb denn?«, stottert Eleanor verwirrt.
»Die genauen Anschuldigungen der Kläger erfahren Sie vor Gericht. Ihnen wird ein fairer Prozess gemacht, das verspreche ich Ihnen. Bitte kommen Sie jetzt mit uns mit«, fährt der Pfarrer fort und verdeutlicht mit einem Handzeichen zwei anderen Bürgerlichen in feinen Gewändern, einer davon ist Richard Lewis, dass sie vortreten und Eleanor ergreifen sollen.
»Mr Lewis. Was machen Sie hier? Was soll das alles bedeuten?«, fragt sie ihren Dienstgeber, der sonst an anderen Tagen immer ein paar freundliche Worte für sie bereithielt.
Doch heute bleibt er stumm, greift nach ihrem linken Arm. Der andere Mann mit schwarzem Hut und in einen wollenen Mantel gekleidet, ein anderer Großgrundbesitzer Salems, packt sie an der anderen Seite und dann zerren sie Eleanor über die Treppe hinunter und über den gestampften, erdigen Weg vor ihrer Hütte hinaus vor ihr Grundstück. Eleanor blickt zurück zum Fenster neben der Tür und sieht Dahlia, die durch die beschlagenen Scheiben hindurch in Richtung ihrer Mutter starrt. Eleanor hat Angst. Sie weiß nicht, was die Menschen mit ihr vorhaben, weswegen sie beschuldigt wird und vor allem von wem. Sie weiß nur, dass sie aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft keine Rechte hat. Ein faires Verfahren wurde ihr versprochen. Das wurde schon vielen versprochen, die dann Tags darauf am Galgen hingen und bis zur letzten Sekunde nicht wussten weshalb. Eleanor macht sich Sorgen. Aber nicht um sich selbst, sondern um ihre Tochter. Was wird aus ihr, wenn sie nicht mehr ist? Wer kümmert sich um sie? Erneut blickt sie in die Augen jenes Mannes, der ihren Arm fest in Händen hält und sie die Gassen hinauf zum Marktplatz schleift.
»Mr Lewis, ich bitte Sie, helfen Sie mir!«, fleht sie ihn mit Tränen der Verzweiflung in den Augen an.
»Ich kann Ihnen nicht mehr helfen, Eleanor«, antwortet er ihr verhalten. »Ich kann nicht. Über Ihr Schicksal werden andere entscheiden. Das liegt nicht in meinen Händen.«
Ohne Handfesseln aber mit festem Griff schleifen sie Eleanor quer über den Marktplatz, vorbei am Dorfbrunnen zu jener Ecke, in der normalerweise Diebe und Kriminelle in Zellen inhaftiert sitzen. Doch heute sind diese Zellen leer. Zusätzliche Eisenstreben wurden an den Gittern angebracht, die vorhandenen Schlösser durch robustere ersetzt. Zwei bewaffnete Männer stehen vor der Tür zu den Zellen, durch die hindurch Eleanor geschupst wird. Sie wehrt sich nicht. Wie sollte sie auch? Die weiße Haube haben sie ihr von ihrem Kopf gerissen, ihre langen Haare hängen im Dreck. Auf den Knien kriecht sie in die hinterste Ecke und kauert sich dort zusammen. Der Pöbel, der ihnen von ihrer Hütte bis zu den Gefängniszellen gefolgt ist, baut sich vor den Zellen auf. Kinder, aber auch bürgerliche Erwachsene treten abwechselnd an die Gitterstäbe heran und spucken in Eleanors Richtung. Noch immer weiß sie nicht, weswegen sie beschuldigt wird, welches Verbrechen ihr zulasten gelegt werden soll. Ein Wimmern aus der anderen Seite der Zelle lenkt ihre Aufmerksamkeit vom Pöbel ab. Eine alte Frau liegt auf dem Rücken im feuchten Untergrund, jammert, bewegt sich aber keinen Millimeter. Eleanor erhebt sich langsam und nähert sich der Person. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, handelt es sich bei der Frau um eine Angehörige der Oberschicht. Sie trägt ein besticktes Kleid aus Seide, Schuhe aus wertvollem Leder und um ihren Hals hängt sogar eine Kette aus Gold mit winzigen bunten Edelsteinen in runden und eckigen Fassungen. Was hat das alles zu bedeuten?
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