Ein dritter Mann, ebenfalls mit einer Waffe im Halfter, kommt über den Marktplatz auf die Zellen zugeschritten. Er trägt einen geflochtenen Korb mit Brotresten. Diese kippt er vor den Gitterstäben auf den Boden und weist die drei Frauen darauf hin, dass dies ihr Essen für heute wäre. Im selben Moment fährt ein weiterer Mann mit einem Karren vor. Darauf sitzen zwei Frauen und ein Mann, ihre Hände gefesselt und Münder geknebelt sind. Der dritte Mann tritt an den Karren heran, packt die Gefangenen an den Fesseln und schiebt sie mit der Waffe gegen deren Rücken gehalten nacheinander in die Zelle zu Eleanor und den zwei anderen Frauen.
»Cotton Mather«, wiederholt Victor Eleanors Antwort auf seine Frage, wer für ihre Verhaftung verantwortlich sei. »Er war gestern Abend auch in der Dorfkneipe. Ich erinnere mich. Er saß mit ein paar Männern an einem Tisch in der Ecke neben dem Kamin, trank und spielte Karten. Zu später Stunde kam der Arzt in die Kneipe gerannt, direkt auf Mather zu und stammelte irgendetwas von Richard Lewis und dass er ihn sofort begleiten müsste.«
»Richard Lewis?«, wiederholt Eleanor. »Er war heute auch bei den Männern, die mich festgenommen haben.«
»Hast du dir irgendetwas zuschulden kommen lassen, Eleanor?«, fragt sie ihr Mann.
»Nein, natürlich nicht. Ich verrichtete so wie jeden Tag meine Arbeit und ging dann nach Hause zu unserer Tochter«, sieht sie in deren mitleiderregendes Gesicht. »Dahlia, alles wird wieder gut werden. Du wirst schon sehen.«
»Diese Hoffnung hätte ich nicht«, entgegnet ihr der Mann, der soeben in die Zelle nebenan geworfen wurde und der sich gerade den Knebel aus seinem Mund zieht.
»Was meinen Sie damit?«, fragt ihn Victor, der glaubt in dem Mann einen der Gehilfen des ortsansässigen Schreiners zu erkennen.
»Das Vergehen, das sie uns vorwerfen, ist jenes, für das sie uns alle hängen werden«, antwortet er, greift nach einem durchnässten Brocken Brot und zieht sich dann hinter die Gitterstäbe zurück.
»Weshalb wurden Sie festgenommen?«, will Eleanor wissen.
»Aus demselben Grund, aus dem wir alle uns hier wiederfinden«, murmelt er und kaut auf seinem Essen herum. »Sie beschuldigen uns der Hexerei.«
»Der Hexerei?«, fragt Dahlia. »Mutter, wovon spricht dieser Mann da bloß?«
»Ich weiß nicht, mein Kind. Es handelt sich bestimmt nur um ein Missverständnis, das sich bald aufklären wird.«
»Das denke ich nicht, werte Frau«, meint der Mann in der Nebenzelle erneut. »Es reicht vollkommen, wenn jemand Ihren Namen im Zusammenhang mit seltsamen Vorfällen auch nur erwähnt und Sie landen hier in so einer Zelle, ein schnelles Verfahren wird abgehalten und am Tag darauf knöpft man Sie neben den anderen Hexen auf. Ich habe sie gehört, aus anderen umliegenden Dörfern. Diese Geschichten der Hexenprozesse. Die kennen hinsichtlich solcher Vorwürfe keine Rücksicht, kein Erbarmen.«
»Aber uns allen hier wurde ein anständiges, ehrenhaftes Verfahren versprochen. Cotton Mather, unser Pfarrer selbst, hat…«
»Diese Verfahren werden nicht für uns abgehalten, gnädige Dame«, unterbricht sie der Fremde. »Sie dienen lediglich dem Zweck, dass sich diese feinen Herren mit ihrem gottesfürchtigen Handeln brüsten können und um ihr eigenes schwaches Gewissen zu beschwichtigen. Glauben Sie mir!«
»Victor«, blickt Eleanor ihren Mann flehend an. »Versprich mir hier und jetzt, dass du dich um Dahlia kümmern wirst! Egal was heute, morgen, oder an einem der kommenden Tage mit mir passieren wird: Du musst dich um Dahlia kümmern. Sie braucht dich!«
»So, das reicht jetzt!«, unterbricht ein Wächter ihr Gespräch. »Entfernen Sie sich von den Gefängniszellen!«
Ein weiterer Karren mit zwei sitzenden Personen auf der Ladefläche fährt vor und hält wenige Meter neben den Zellen auf dem Marktplatz.
»Sir«, wiederholt sich der Bewaffnete erneut. »Ich werde es Ihnen kein weiteres Mal sagen: Treten Sie zurück und gehen Sie mit ihrem Kind nach Hause!«
Eleanor streckt ihren Arm durch die Gitterstäbe hindurch und Dahlia läuft auf sie zu. Für einen kurzen Moment schafft sie es, Dahlias Wangen zu berühren und streicht liebend über sie hinweg, als ihre Tochter ihr wieder entrissen wird. Victor packt Dahlia am Arm, weil diese noch einmal versuchte, in Richtung ihrer Mutter zu laufen, schafft es, sie ein wenig zu beruhigen und tritt dann mit Dahlia gemeinsam den Heimweg an.
Es beginnt bereits zu dämmern, dieser schreckliche Tag neigt sich dem Ende und Eleanor hofft, dass sich am nächsten Tag alles zum Guten wenden wird. Die Erzählungen des anderen Mitgefangenen haben ihr jedoch größtenteils die Hoffnung geraubt. Aber nicht völlig. Ein kleiner Funken lodert noch in ihr und an den haftet sie ihre Gedanken, als sie sich in die finstere Ecke ihrer Zelle zurückzieht. Sie kann nicht anders, sie muss einfach an diesem letzten Funken festhalten.
Vier Tage sind seit Eleanors Festnahme vergangen. Victor und Dahlia hat sie seit ihrem Besuch am ersten Tag nicht mehr wieder gesehen. Sämtliche Personen werden von den Gefängniszellen und deren Inhaftierten ferngehalten. Zu groß sei die Gefahr, die von den Hexen ausginge, ließ Cotton Mather verlautbaren. Und die Einwohner Salems halten sich an seine Worte. Sie vertrauen ihm, dem Gelehrten, ihrem Pfarrer, hängen mit ihren Ohren an seinen Lippen, sobald er auch nur seinen Mund öffnet. Vier Tage, in denen sich niemand außer den Wächtern den Zellen nähern durfte. Vier Tage, in denen sich die Gefangenen von Brotresten und ein paar Schluck trübem Wasser ernährten und in der Nacht ohne Decken froren. Insgesamt acht Personen verharren in den Zellen, sechs Frauen und zwei Männer. Einer von ihnen sogar ein Prediger, der durch seine Äußerungen den Unmut Cotton Mathers auf sich zog und deshalb inhaftiert wurde, weil er sich auf der Seite der teuflischen Hexe befände. Vier Tage schon hatten alle Gefangenen Zeit sich ihrem Schicksal zu ergeben. So auch Eleanor. Dieser ohnehin winzige Funke der Hoffnung schwand von Tag zu Tag und ist in der Zwischenzeit erloschen. Sie weiß, dass sie in ihrer Stellung keine Rechte gegenüber ihren Anklägern hat, dass sie sie nicht einmal anhören werden, wenn sie sich in ihrem Prozess versuchen würde zu verteidigen. Dessen ist sie sich völlig im Klaren. Und sie hat dies akzeptiert.
Wieder einmal beginnt sich die Sonne mühevoll ihren Weg zurück an den Himmel zu bahnen, als Eleanor durch das Gekeuche der scheinbar noch immer lebenden, alten Dame neben ihr am fünften Tag erwacht. Sie erhebt sich, nimmt einen Schluck Wasser aus dem Krug und blickt durch die eisernen, vom Morgentau nassen Gitterstäbe hindurch auf den Marktplatz, auf dem sich schon ein paar Einwohner Salems tummeln. Gassen und Straßen aus Erde, Sand und Dreck. Vereinzelte kleinere und größere Steine auf den Wegen, die den Karren, welche von Pferden oder Vieh durch das Dorf gezogen werden, ihren Gang erschweren. Dunkelhäutige Angehörige der untersten Gesellschaftsschicht gehen deshalb jeden Tag im Morgengrauen kreuz und quer über den Platz und klopfen mit Holzplatten an Stielen auf diese Steine, versuchen, sie im Boden zu versenken. Sie streichen mit diesen Brettern von links nach rechts über die Erde, um so die Furchen der Karren, die sich durch das feuchte Wetter tiefer in den Boden schneiden als sonst, zu glätten, damit der Marktplatz ansehnlich wirkt. Vor allem heute.
Das Abhalten der Gerichtsverhandlungen an diesem Tag hat sich in der Zwischenzeit im ganzen Ort herumgesprochen. Frauen sämtlicher Schichten, oder deren Bedienstete haben bis zum Abend des Vortages ihre Häuser von oben bis unten geputzt, Fächer und Laden von Staub befreit, den Dreck aus den Holzlatten des Fußbodens gekratzt und gewaschen, um dann die Kübel mit dem verschmutzten, stinkenden Wasser auf die Gassen vor ihre eigenen Häuser zu schütten. Aber nicht nur deshalb liegt dieser stechende, penetrante Geruch in der Luft. Tage zuvor waren die Männer Salems auf der Jagd, um anlässlich der heutigen Feier genug Fleisch auf die Teller bringen zu können. Tierkadaver hängen an Holzbalken überall im Dorf verteilt und warten darauf zerteilt, gebraten und von den Einwohnern des Dorfes verzehrt zu werden.
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