Jemand tippt Eleanor auf die Schulter. Sie erschrickt und springt zur Seite in Richtung der Gitterstäbe. Ein kleiner Junge versucht Eleanor an ihrem Kleid zu packen, aber seine Arme sind zu kurz. Eleanor entfernt sich schnell wieder auf die hintere Seite, an die der Pöbel nicht herankommen kann. Eine zweite Frau tritt aus dem Dunkeln des hinteren Endes der Zelle. Eleanor kennt sie, die stumme Bettlerin vom Marktplatz, der sie ab und an einen Penny zusteckte, wenn sie selbst diesen erübrigen konnte. Eleanor begreift noch immer nicht, was hier vor sich geht. Wieso sperrt man sie, eine Dienstmagd, mit einer stummen Bettlerin, die bestimmt noch nie jemandem irgendein Leid zugefügt hat und einer alten, wohlhabenden Dame, deren Gesundheit offensichtlich zu wünschen übrig lässt, in die Gefängniszellen? Das ergibt doch alles keinen Sinn!
Cotton Mather tritt wieder vor die Gitterstäbe und richtet sein Wort an den schreienden Pöbel. Er bittet sie, in ihre Häuser und Hütten zurückzukehren, versichert ihnen, die Lage unter Kontrolle zu haben und fordert sie auf, ihrem Tagwerk wie gewohnt nachzugehen. Nur langsam löst sich die Menschenmenge auf. Mütter nehmen ihre Kinder wieder an den Händen, Männer senken ihre Äxte, Hämmer und Gabeln. Die Rufe der Menschen werden immer leiser, bis sie schließlich verstummen. In alle Richtungen verstreut sich die Menge.
Es ist noch früh am Morgen. Victor ist bestimmt schon unten im Hafen, löst das Tau seines Bootes und schippert mit diesem hinaus aufs offene Meer. Victor. Hoffentlich kommt er heute nach getaner Arbeit direkt nach Hause zu seiner Tochter, die ihn an diesem Tag so dringend braucht. Dahlia, ihr geliebtes, einziges Kind. Eleanor ist verzweifelt. Wie kann sie ihr helfen? Wie sollte sie ihr helfen? Aber sie weiß, Dahlia ist schlau. Vielleicht ist sie, nachdem die Bewohner Salems von ihrem Grundstück verschwunden waren, direkt hinunter an den Hafen zu ihrem Vater gelaufen, um ihm von dem Geschehenen zu berichten. Hoffentlich. Victor ist in dieser Zeit Dahlias einzige Stütze.
Auch der Pfarrer hat sich in der Zwischenzeit von den Gefängniszellen entfernt. Nur noch die zwei Wachen stehen kerzengerade vor den Gitterstäben und bewachen die drei Frauen in den Zellen. Eleanor blickt durch die Stäbe hindurch hinaus auf den Marktplatz und beobachtet die Händler, die in Karren ihre Waren heranschaffen und auf den Tresen und Holzbrettern rund um deren Ständen für ihre Kunden ansprechend verteilen. Für alle anderen scheint das Leben normal weiterzulaufen. Frauen kaufen Lebensmittel, Männer gehen ihrer Arbeit nach und kleine Kinder laufen quer über den Marktplatz und quietschen vergnügt.
Eleanor versucht die alte Dame aus dem nassen Boden hochzuheben und zieht sie auf die Seite, um sie mit dem Rücken gegen die Wand zu lehnen. Sie atmet noch, aber äußerst schwer und mühevoll. Die Bettlerin, deren Namen niemand im Dorf kennt, bringt Eleanor einen Krug mit Wasser, den ihr anscheinend einer der Wachen gegeben hat.
»Misses, hören Sie mich?«, versucht Eleanor auf die alte Dame einzureden, um zu erfahren, ob sie vielleicht weiß, was hier vor sich geht. »Misses!«
Doch die Frau bleibt stumm, genauso wie ihre andere Mitgefangene. Eleanor nimmt selbst einen Schluck Wasser aus dem Krug und versucht dann ein wenig davon der Frau einzuflößen, aber das Wasser fließt zwischen ihren Lippen über ihren Hals hinweg. Eleanor reicht den Krug wieder zurück an die Bettlerin, steht auf und tritt an die Wachen heran.
»Entschuldigen Sie, meine Herren. Können Sie mir vielleicht mitteilen, weshalb diese zwei Frauen und ich eingesperrt wurden?«
Keiner der Männer antwortet Eleanor. Sie drehen sich nicht einmal zu ihr um. Ihre Waffen halten sie schussbereit vor ihren Körpern, stehen breitbeinig vor den Zellen, blicken starr über den Marktplatz und beobachten vorbeikommende Menschen. Niemand darf sich den Zellen nähern. Das ist ihr Befehl und an diesen halten sie sich auch.
Eleanor erkennt langsam ihre ausweglose Situation. Niemand will ihr Bescheid geben, um welche Anschuldigungen es sich bei ihrer Festnahme handelt, von denen Cotton Mather bei ihrer Verhaftung gesprochen hat. Die zwei Frauen, mit denen sie sich die Zelle teilen muss, geben keinen Laut von sich, so wie die zwei Männer, die sie bewachen. Sie geht wieder zurück in die Ecke, in die sie sich anfangs zurückgezogen hat, setzt sich wieder mit angezogenen Beinen nieder und wartet. Worauf sie wartet, weiß sie nicht. Doch was bleibt ihr anderes übrig?
Stunden vergehen. Am Nachmittag hat es begonnen zu regnen. Das Wasser fließt die Furchen im Boden entlang, rinnt vom Marktplatz direkt in die Gefängniszelle, in der die drei Frauen auf dem Boden kauern. Eleanors Kleid und ihre Schürze haben die Feuchtigkeit aufgesogen. Sie friert, reibt ihre Handflächen immer wieder aneinander, damit ihre Hände nicht mehr so stark zittern. Der Wind bläst durch die Gitterstäbe hindurch. Das Keuchen und Wimmern der alten Frau wird von Zeit zu Zeit schwächer, ist kaum noch zu hören.
In dem Moment vernimmt Eleanor eine vertraute Stimme, die sich ihr nähert. Dahlia! Sie blickt über den Marktplatz in Richtung jener Seitengasse, die hinunter zum Hafen vorbei an ihrer Hütte führt und erblickt Dahlia, die Victor an ihrer Hand über die nassen Straßen zerrt. Victor, er ist da und nicht draußen auf dem Meer, oder in der Dorfkneipe. Er ist da, für seine Tochter und jetzt auch für seine Frau.
»Mutter!«, ruft Dahlia, als sie sie gegen die Gitterstäbe gelehnt in der viel zu niedrigen Gefängniszelle erblickt.
»Eleanor, was soll das bedeuten?«, fragt sie ihr Mann und wird, als er sich der Zelle nähern möchte, mit der Waffe eines Wächters, die dieser quer gegen Victors Körper presst, davon abgehalten.
»Sie dürfen sich den Gefangenen nicht nähern!«, ermahnt er ihn.
»Den Gefangenen? Das ist meine Frau!«, entgegnet er dem Jungspund und versucht ihm die Waffe aus den Armen zu reißen, als der andere bewaffnete Mann neben ihn tritt und ihm dessen Waffe in die Rippen rammt, sodass Victor zu Boden geht.
»Abstand halten!«, brüllt er ihn an.
»In Ordnung. Ich habe verstanden«, antwortet ihm Victor und erhebt sich mit schmerzerfülltem Gesicht.
»Victor«, lächelt ihn Eleanor an. »Tu, was sie dir sagen. Mir geht es gut. Wirklich. Mach dir keine Sorgen um mich, kümmere dich um unsere Tochter!«
»Ich soll mir keine Sorgen machen? Dahlia kam in den Hafen gelaufen. Ich war schon auf dem Wasser, unterwegs hinaus aufs Meer, als ich ihre Rufe vom Hafen her vernahm. Sie erzählte mir, dass du verhaftet wurdest und dich eine aufgebrachte Menge aus unserem Haus ins Dorf gebracht hätte. Was soll das Ganze?«
»Ich weiß auf deine Frage leider keine Antwort, Victor. Ich habe diese auch schon mehreren Personen gestellt, aber keiner wollte mir Auskunft geben. Sie haben mich festgenommen, gesagt, dass irgendjemand Anschuldigungen gegen mich erhoben hätte. Welche das sind, weiß ich nicht. Wer sie erhoben hat, auch nicht. Sie haben mich in diese Zelle geworfen, gemeinsam mit diesen zwei anderen armen Frauen, die auch nicht mehr wissen als ich. Und wenn doch, dann können sie es mir nicht mitteilen.«
»Wer ist gekommen, um dich zu verhaften, Eleanor? Ein Richter? Der Bürgermeister?«
»Nein, es war Cotton Mather.«
»Mather, der Pfarrer? Wer gibt ihm das Recht dazu?«, fragt Victor empört.
Dahlia steht neben ihrem Vater, der seine Hand um ihren Rücken schlingt und sie fest an sich drückt. Sie schluchzt, versucht aber stark zu bleiben. Für ihre Mutter. Aber sie kann deren Anblick nicht ertragen. An anderen Tagen trägt sie ihr Haar immer ordentlich unter der Haube, so wie es sich für eine Dienstmagd gehört. Ihre Schürze ist zwar mit Löchern versehen, aber diese sind feinsäuberlich mit Flicken vernäht und immer sauber und perfekt um ihre magere Taille gebunden. Aber heute hängen ihre Haare dreckig in Strähnen von ihrem Kopf. Ihr Gesicht, ihre Hände sind mit Morast beschmiert, ihre Kleidung beschmutzt. So hat sie ihre Mutter noch nie gesehen. Was haben diese Menschen ihr bloß angetan? Und was haben sie mit ihr vor?
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