1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 »Was weiß ich.«
»Lasse, mach doch was.«
Kaum hatte das Feuer das Innere des Klosetts erfasst, verstummte das Geheul. Die Gewissheit von Charlies Tod traf Claudia fast so hart wie die ersten Bilder der Grenzöffnung. Sie kniff sich die Haut unterm Kinn, als könne sie auf diese Weise aus dem Albtraum erwachen. Da reckte Lasse sein Gesicht gefährlich nah zur Tür hin.
»Pass bloß auf, du«, warnte sie ihn.
Er drehte sich um, und Claudia sah das Entsetzen in seinen Augen. »Die Tür is zugeschraubt«, sagte er. »Von oben bis unten.«
SAMSTAG
Anna hatte sich in die letzte Reihe gesetzt – Rucksack auf dem Schoß, Mantelkragen an den Hals geschmiegt, Kopf voller Zweifel. Sie mochte es kaum glauben, dass sie tatsächlich den Zug nach Rathenow genommen hatte und dort in den Linienbus gestiegen war. Noch paffte der Busfahrer draußen eine Zigarette, noch konnte sie aussteigen und die Aktion abblasen.
Verunsichert schaute sie durch das Fenster auf das Bahnhofsgebäude. Der glutrote Klinker thronte über dem Vorplatz und verbannte den morgendlichen Osthimmel. Auf der anderen Straßenseite ein Wohnblock und davor eine Reihe spindeldürrer Bäume, die aus der Entfernung wie in die Fassade eingebrannte Silhouetten wirkten. Anna erinnerte sich, dass Mitte der 90er der Zugverkehr von Rathenow nach Berlin wegen Bauarbeiten stillgelegt worden war. Ihr Onkel hatte darüber zunächst getobt und später lediglich den Kopf geschüttelt; sie war zu jung gewesen, um seine Wut zu verstehen, es hatte wohl mit der Pension und den fehlenden Gästen zu tun gehabt. Heute fuhren die Züge wieder im Stundentakt, doch war der Bahnhofsplatz in der Frühe kaum lebhafter als ein Friedhof.
Die Januarluft strömte in den Bus und kühlte das Innere langsam aus. Anna spürte durch den Rucksack hindurch die Briefe auf ihrem Schoß. Fünf Gründe, sofort auszusteigen und den nächsten Zug nach Berlin zu nehmen; fünf Gründe zu fragen: Warum erst jetzt? Wäre ihre Familie nicht bedroht worden, lägen die Briefe in dem Schuhkarton, verborgen und verschlossen wie eine Totengabe. Vermutlich würde ein Anruf bei ihrer Tante noch immer alle Bedenken aus der Welt schaffen.
Hallo, ich bin’s.
Hallo, Anna.
Alles klar bei euch?
Jaja, hier ist alles bestens.
Das freut mich, ehrlich.
Und weshalb rufst du an?
Der Motor heulte auf, die Tür schloss sich, und der Bus rollte vom Bahnhofsplatz in Richtung Gollwitz. Zu spät, zu spät.
Anna rutschte tiefer in den Sitz, streifte ihre Handschuhe ab und berührte die schorfige Stelle auf ihrem Handrücken. Ungezählte Male hatte sie die Sache mit sich selbst ausgemacht und bereitwillig ihr Los getragen, die einzige Überlebende der Brandnacht zu sein. Sie krümmte die Hand zur Faust und spürte, wie der Schorf auf ihrer Haut spannte; ein Gefühl, das einen als Kind fast in den Wahnsinn getrieben und zum großen Herumpolken verführt hatte.
Anna wischte mit dem Ärmel über die Fensterscheibe. An ihren Augen zogen menschenleere Parks und Gehwege vorbei, eine Villa im Stil »Schön aufgebaut und schön verwahrlost«, dann ein Spielplatz unter einer schmutzigen Schneedecke. Auf einigen Schaufenstern klebten Schilder mit dem Hinweis ZU VERMIETEN, andere Auslagen erstrahlten in einer Farbpalette von Hellgrau bis Dunkelgrau. Der Bus verließ die Innenstadt und rollte über nasse Straßen in die Peripherie.
Aus mehrstöckigen Mietshäusern wurden Eigenheime, die man durch Hecken und Zäune vor den Blicken Fremder zu schützen suchte; in manchen Gärten waren Flaggen gehisst, ein Totenkopfsymbol als Abwechslung zu Schwarz-Rot-Gold. Sie blickte nach vorn und sah den Busfahrer mit einer Greisin plaudern. In Berlin hätte ein Schild über dem Führerhaus darauf hingewiesen, dass man den Fahrer während der Fahrt nicht anzusprechen hatte; außerdem favorisierte man einen Platz möglichst weit weg von den anderen. Hier dagegen saßen die Leute dicht beisammen. Bis auf einen Mann, der sich an der Stange festhielt, schienen die Fahrgäste allesamt im Rentenalter. Bei jeder Bodenwelle stießen die ergrauten Schädel hoch, und die Heizung blies unablässig den Geruch von Kernseife und feuchter Tapete nach hinten.
Als Annas Blick zufällig den des Mannes traf, kniff er die Brauen zusammen und verengte die Augen. Mit der olivgrünen Cargohose und der aufgebauschten Daunenjacke entsprach er dem Klischee, das Städter von 40-jährigen Landeiern pflegten. Eine knallrote Basecap krönte sein Outfit. Anna schaute auf ihren Rucksack, bemerkte aber aus den Augenwinkeln, dass er sie unentwegt anglotzte. Lächerlich, dachte sie, kein Grund, nervös zu werden. Auf ihrer Arbeit erlebte sie Kinder, die sich während eines Gesprächs vor Anspannung die Genitalien rieben, oder Väter, deren Interesse eher ihren Brüsten galt als den Basteleien der eignen Tochter. Vermutlich begegnete der Typ nur selten Frauen seines oder jüngeren Alters; hier war eben nicht Randbezirk oder Speckgürtel, sondern ganz weit draußen.
Sie schob den Rucksack gegen den Vordersitz und zog ihr Handy heraus. Laut Onlinefahrplan fuhr der Bus im Zweistundentakt von Gollwitz nach Rathenow, am Samstag und Sonntag bis 16.00 Uhr, dann war Schluss. Das hieß immerhin, dass sie sich abends mit Sonja auf ein Glas Wein treffen konnte, um darüber zu diskutieren, ob »Buffy« oder »Angel« die bessere Serie sei, dass sie in ihrem eigenen Bett schlafen würde.
»Anna Majakowski?«
Ihr Kopf schnellte hoch.
»Danny«, sagte der Mann mit der Basecap. »Danny Schmidt, erinnerst du dich?«
Seit 6.00 Uhr morgens saß Willy in seinem Astra und observierte das Haus, das für ihn nicht irgendein Gebäude am Rand der Gollwitzer Heide war, sondern die Kinderstube eines mehrfachen Mörders.
Er hatte den Rücken gegen die Fahrertür gelehnt, das rechte Bein auf dem Beifahrersitz und in den Händen ein Fernglas. Zwischen dem Wagen und dem Grundstück erstreckte sich die verschneite Ebene brachliegender Felder; über dem Haus die Morgensonne, so trüb wie das Auge eines alten Rüden.
Jörg und Lisbeth Berger hatten das Haus in den 70ern erbaut, damals waren beide in der LPG »Märker Land Gollwitz« beschäftigt gewesen. An der Fassade der DDR-typische Kratzputz, ein Gemisch aus Zement, grobem Kies und schmutziger Arbeit. Rechts gelangte man durch ein Holztor zu einem Schuppen und einer Garage, in der früher einmal Bergers Golf gestanden hatte. Jörg Berger war 2014 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, seitdem lebte Lisbeth allein auf dem Grundstück.
Willy legte den Feldstecher beiseite und öffnete die unterm Kinn verschnürten Ohrenklappen seiner Mütze, dann schraubte er die Thermoskanne auf und goss sich den letzten Rest Kaffee ein. Wenn er unterwegs war, benutzte er Kondensmilch aus kleinen Plastikbehältern; er stach mit dem Daumennagel die Alufolie auf, damit die Milch beim Öffnen nicht herausspritzte, und tröpfelte geduldig die Sahne in den Kaffee. Anschließend schmiss er die Verpackung in den Fußraum auf der Beifahrerseite, wo sich leere Bierflaschen häuften. Er pustete über den Becher, nippte und hob wieder das Fernglas. Morgenroutine.
Bei Tagesanbruch war Lisbeth von einem Raum zum nächsten gelaufen, um die Öfen anzuheizen; jetzt qualmte der Schornstein und in der Küche brannte Licht. Sie saß über ein Prospekt gebeugt am Tisch und trank ebenfalls Kaffee. Er wusste, dass sie die Angebote vom Netto ausgiebig zu studieren pflegte; oft genug hatte er sie dabei beobachtet. Sie blätterte langsam vor und zurück, während Willy sich im Gähnen übte. Nach Jahrzehnten im Schichtdienst, entweder auf Wache oder Streife, verfehlte Koffein bei ihm jede Wirkung, selbst am Abend zur Tagesschau gönnte er sich eine Tässchen Kaffee, ohne nachts Polka tanzen zu müssen. Er hakte den Daumen ins Knopfloch seiner Weste und riss übertrieben die Augen auf.
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