66Eine weitere Tabelle, die wir der Polizeilichen Kriminalstatistik entnehmen, zeigt uns, in welchem unterschiedlichen Maße die Jugendlichen und Heranwachsenden (im Hellfeld der Kriminalität) bei besonders wichtigen einzelnen Deliktsgruppen an der Kriminalität als tatverdächtig registriert werden. Bei dieser Tabelle sind jedoch wieder die oben erwähnten Fehlerquellen der Kriminalstatistik zu beachten. Zu berücksichtigen ist insbesondere die je nach Jahr unterschiedlich hohe Aufklärungsquote in den einzelnen Deliktsgruppen. Zudem liegen der Polizeilichen Kriminalstatistik recht komplexe Richtlinien zur Erfassung von Straftaten zu Grunde, die in der Praxis nicht immer fehlerfrei umgesetzt werden. Die Folge ist eine quantitative Mehr- oder Mindererfassung einzelner Delikte. 131Die Anteile junger Täter an den Gesamttatverdächtigen dürften in der PKS im Übrigen auch deswegen überproportional hoch liegen, weil Jugendliche ihre Taten mit weniger Raffinesse begehen und damit auch leichter zu überführen sind als Erwachsene.
Tabelle 4:Jugendliche bzw. Heranwachsende waren an den Tatverdächtigen 1968, 1980, 2000 und 2018 beteiligt
|
Jugendliche |
Heranwachsende |
Jahr |
1968 |
1980 |
2000 |
2018 |
1968 |
1980 |
2000 |
2018 |
Alle Delikte |
10,9 |
12,6 |
9,6 |
8,6 |
7,9 |
11,7 |
8,8 |
9,0 |
Vergewaltigung & Sexuelle Nötigung (§§ 177 II, III u. IV, 178 StGB) |
12,5 |
7,4 |
9,0 |
11,1 |
16,2 |
15,3 |
9,4 |
13,4 |
Sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) |
17,6 |
15,6 |
12,9 |
20,4 |
7,5 |
8,2 |
6,0 |
8,8 |
Verbreitung pornographischer Schriften (§§ 184, 184a, 184b, 184c, 184d, 184e StGB) |
|
|
|
19,5 |
|
|
|
6,6 |
Diebstahl ohne erschwerende Umstände |
17,7 |
15,4 |
11,9 |
15,5 |
11 |
8,3 |
6,8 |
8,2 |
Diebstahl unter erschwerenden Umständen |
21,5 |
32,5 |
24,2 |
14,7 |
17,9 |
21,8 |
17,3 |
11,4 |
Auto- und Gebrauchsdiebstahl |
20,2 |
26,4 |
27,5 |
14,6 |
29,9 |
30,4 |
19,9 |
13,6 |
Moped- und Motorraddiebstahl |
58,5 |
61,2 |
58,7 |
40,3 |
19,5 |
18,3 |
14,1 |
15,9 |
Raubdelikte |
16,2 |
20,9 |
27,6 |
20,2 |
19,6 |
22,1 |
18,0 |
16,3 |
Betrug |
1,7 |
4,8 |
5,0 |
5,1 |
5,7 |
8,6 |
8,1 |
9,5 |
Sachbeschädigung |
19,2 |
21,4 |
23,9 |
16,1 |
15,2 |
17,1 |
13,0 |
11,4 |
Rauschgiftdelikte (BtMG) |
19,4 |
5,8 |
14,0 |
12,8 |
23 |
21,4 |
22,9 |
17,7 |
Gefährliche und schwere Körperverletzung |
9,2 |
11,5 |
17,9 |
12,3 |
14,4 |
17,1 |
15,0 |
12,9 |
Mord und Totschlag |
4,1 |
4,3 |
5,6 |
5,7 |
9,5 |
11,8 |
10,8 |
12,1 |
Brandstiftung und Herbeiführen einer Brandgefahr |
|
9,4 |
11,5 |
10,3 |
|
6,9 |
5,9 |
6,4 |
67Die Zahlen von Tabelle 4 geben uns dennoch einen recht instruktiven Einblick in die Kriminalpsychologie der Pubertäts- und Adoleszenzjahre. 132Bei den Heranwachsenden sind die Rauschgiftdelikte, die Autodiebstähle, Raub und räuberische Erpressung sowie der Diebstahl unter erschwerenden Umständen überproportional häufig vertreten. Bei den Jugendlichen stehen das Moped und Motorrad an der Spitze aller begehrten Objekte. Überproportional häufig werden von den Jugendlichen auch Raub bzw. räuberische Erpressung, Auto- und Gebrauchsdiebstahl, Diebstahl unter erschwerenden Umständen sowie Sachbeschädigung 133begangen. Bei der Brandstiftung fällt ebenfalls eine hohe Belastung auf.
68Unter dem Durchschnitt liegen die Prozentsätze der jungen Täter für den Betrug, der in der Regel an Gelegenheit und Erfahrung höhere Anforderungen stellt und deswegen trotz der zunehmenden Verlagerung der jugendlichen Konsumkriminalität ins Internet weiterhin ein typisches Erwachsenendelikt ist. Bei der für die Jugendkriminalität im Internet typischen „Softwarepiraterie“ nach § 106 UrhG sinken die Anteile der Jugendlichen und Heranwachsenden an den Tatverdächtigen rapide. Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2012 wies noch einen Anteil von Jugendlichen mit 7,0 % und einen Anteil von Heranwachsenden von 6,1 % an allen entsprechenden Urheberrechtsverletzungen aus, doch 2018 betrug der Anteil der Jugendlichen unter 2 % und der Anteil der Heranwachsenden gerade noch 2,6 %.
69Einer gesonderten Würdigung bedarf noch das Phänomen der Gewaltkriminalität , 134die bei jungen Straftätern trotz absinkender Tendenz weiter Sorgen bereitet. Zwar findet sich Gewaltkriminalität auch bei erwachsenen Straftätern, vor allem bei den sog. Jungerwachsenen, sie tritt aber in der Öffentlichkeit besonders – bezogen auf ihren Altersanteil an der Bevölkerung – bei den Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren und bei den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren deutlich in Erscheinung (s. Schaubild 5).
Schaubild 5:Kriminalitätsbelastung der deutschen Tatverdächtigen bei Gewaltkriminalität im Bundesgebiet, 2018; Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018, Band 4, Tabelle 4 – 3.2.-G03, S. 167
70Die überproportional hohe Tatbeteiligung der Jugendlichen und Heranwachsenden überrascht nicht, denn sie ist auch Ausdruck der altersspezifischen Aggressivität. Die Steigerung der physischen Kräfte, die um das 20. Lebensjahr ihren höchsten Stand erreichen, wird meist noch nicht in ihrer Entfaltung durch ein psychisches Einsichtsvermögen gebremst, das die Folgen der Gewalttätigkeit für das Opfer und den Täter selbst bedenkt. Auch kommen gerade in den Gewaltdelikten jene oben (Rn. 12) bereits angeführten allgemeinen Ursachen der Jugendkriminalität zum Ausdruck, insbesondere das häufige Fehlen einer legalen Ventilierung, ein falsches Zugehörigkeitsgefühl zu einer gewalttätigen peer group 135und die frühe Gewöhnung an die Gewaltausübung durch die Massenmedien, namentlich durch Online-Medien. Horror- und Kriegsfilme stehen wegen ihres hohen Gewaltpotentials verstärkt in der Kritik, 136ebenso virtuelle Kampfspiele . Trotzdem zeigen Untersuchungen, dass Haupteinflussgröße für eine Gewaltbereitschaft im Jugendalter weiterhin die innerfamiliäre Gewalterfahrung ist, häufig verstärkt durch die Wirkung medialisierter Gewalt. 137Die in den letzten Jahren mehr und mehr beklagte Zunahme von Gewalttaten in der Schule – vor allem in Sonder- und Hauptschulen, sowie in großen Schulzentren oder Gesamtschulen – konnte durch empirische Untersuchungen bisher kaum eindeutig nachgewiesen werden. 138Zumeist ist auch die öffentlich wahrgenommene Schulgewalt nur typisches Abbild jugendlicher Gewalt. Zudem wird die Wahrnehmung des Phänomens der Schulgewalt dadurch verzerrt, dass die Polizeistatistiken unter „Gewaltdelikten“ je nach Bundesland auch bloße Sachbeschädigungen und verbale Beleidigungen registrieren. 139Möglicherweise führt zudem die verstärkte Präsenz der Polizei an den Schulen im Rahmen von Präventionsmaßnahmen dazu, dass die Polizei von mehr Delikten Kenntnis erlangt als früher. 140Aufmerksamkeit fordert vielmehr die latent hohe Fremdenfeindlichkeit unter den Schülern und das Phänomen des Schulschwänzens, das die Dunkelfeldforschung als erheblichen Risikofaktor für jugendliche Delinquenz ausweist. 141Auch hier wäre es zu kurz gedacht, das Problem nur bei den Jugendlichen selbst oder bei der Schule zu suchen, da ein großer, wenn nicht der entscheidende Einfluss auf die Gewaltbereitschaft junger Menschen von der familiären Situation ausgeht. Dabei spielen allgemeine gesellschaftliche Schwierigkeiten wie Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und instabile familiäre Bindungen bzw. Partnerschaften eine wichtige Rolle. 142
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