Sabine Hennig-Vogel
Prosasplitter ukrainischer Art
Kurzprosa
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Inhaltsverzeichnis
Titel Sabine Hennig-Vogel Prosasplitter ukrainischer Art Kurzprosa Dieses ebook wurde erstellt bei
Hochzeit auf dem Maidan
Im Wald von Slawjansk
SMUTA – Zeit der Wirren
Episode aus einem nicht erklärten Krieg
Kiewer Kiborg
Ein gewöhnlicher Tag in Donezk
Danksagung
Über die Autorin
Impressum neobooks
Aus den Sandsäcken zwischen Autoreifen und Holzverstärkungen sickerten kleine Rinnsale. Erst vor wenigen Tagen hatten die Freiwilligen tonnenweise Schnee und Eis in Säcke geschippt und zur Verstärkung der Barrikaden verwendet. Der Frost ließ das Ganze hart wie Stein werden. Hart wie Stein war auch die Entschlossenheit der Maidaner, auszuharren.
Die Sonne meinte es an diesem Wintertag gut mit Kiew, sie wärmte die Seelen der Menschen, spendete Licht, Wärme und Hoffnung. Nur für die Barrikaden verhießen die heißen Strahlen nichts Gutes. Die Rinnsale wurden immer größer, das Wasser floss in kleinen Bächen die Straße entlang.
Plötzlich kam Bewegung in eine Gruppe Männer in Kampfanzügen. Ein Lkw fuhr rückwärts an die Barrikade heran und entlud eine Fuhre Sand. Die Männer griffen zu Schaufeln, befüllten weitere Säcke und besserten die Barrikaden aus.
Zur gleichen Zeit im Haus der Stadtverwaltung – Anna stieß gerade einen kleinen Schrei aus. Vor ihr lag ein großer Pappkarton. Zaghaft hatte sie den Deckel abgenommen und blickte zwischen dem weißen Etwas und dem Mann im Designeranzug hin und her.
»Aber das kann ich doch nicht annehmen!«, stammelte sie.
»Oh, doch. Sie können, und Sie werden. Schauen Sie…«, er hob ein Brautkleid aus dem Karton, »das ist Größe 36. Sie tragen doch eine 36, oder?«
Anna nickte.
»Habe ich doch gleich gesehen. Bin ja nun schon ein paar Jahre im Geschäft. Kommen Sie, probieren Sie es an!«
»Ich kann das aber nicht bezahlen!«
»Mädchen, mach dir keine Sorgen. Das ist mein Beitrag zu eurer Revolutionshochzeit. Ich bin kein mutiger Mensch, aber ich will, dass ihr einen schönen Tag habt.«
»Danke!« Sie umarmte den Mann, dann verschwand sie mit dem Kleid und zwei Freundinnen im Sanitärtrakt des Erdgeschosses.
Bogumil, der orthodoxe Priester, der zuletzt die ukrainische Gemeinde in Frankfurt betreut hatte, besprach noch ein paar Einzelheiten mit dem Bräutigam. Mitja wirkte nervös. Er kannte Anna erst zwei Monate. Als in der behelfsmäßigen Küche im Haus der Gewerkschaften ein Regal unter der Last der von den Kiewern gespendeten Einweckgläser zusammen-gebrochen war, hatte er der verletzten Anna Erste Hilfe geleistet. Von diesem Tag an sahen sie sich täglich. Saßen zusammen an der Feuertonne und sangen ukrainische Volkslieder. Anna besserte seine Kleidung aus und strickte ihm einen Schal. Mitja, der nach dem Chemiestudium als Koch jobbte, zeigte ihr einige Kniffe in der Küche. An dem Tag, als man den Seismologen Jura gefesselt und mit Folterspuren tot im Wald nahe dem Flughafen fand, da saßen sie beide weinend und eng umschlungen die ganze Nacht auf der Treppe. Am nächsten Morgen malte Anna ihm ein rotes Herz und einen Schutzengel auf seinen Helm.
Ja, er kannte sie erst zwei Monate. Aber noch nie war er sich so sicher gewesen, sicher, dass er hier auf dem Maidan ausharren würde, koste es, was es wolle; überzeugt davon, in Anna genau die Eine gefunden zu haben, die Eine, mit der er durchs Leben gehen wollte. Und er fand sie auch noch genau hier, im Hauptquartier der Demonstranten, wo Leid und Freude, Enttäuschung, Angst, Mut und Hoffnung jeden Tag aufeinandertrafen… Bogumil hatte die Idee, ihrer jungen Liebe einen festlichen Start in die Zukunft zu ermöglichen. Eine kleine Zeremonie im engsten Kreis…
Dann erschien sie – Anna. Nicht so, wie sie jeden Tag Essen an die Demonstranten verteilte, in Jeans und Sweater und mit Mundschutz, nein. Dafür in einem wunderschönen, schulterfreien Brautkleid. Eine Maskenbildnerin von „Kanal 5“ hatte ihr nicht nur ein tolles Make-up ins Gesicht gezaubert, auch den langen, dunklen Haaren sah man die Verwandlung durch die Hand eines Profis an. Ein traditioneller Flechtzopf quer über den Kopf wurde durch rote, künstliche Mohnblüten zu einem Hingucker. Die Mohnblüten leuchteten selbst durch den Schleier, der zu Beginn der Zeremonie nach alter Tradition das Gesicht der Braut verdeckte.
Anna überstrahlte alles, auch ihren Bräutigam. Und selbst wenn der einen Anzug gehabt hätte – Mitja war stolz auf die nagelneue Camouflage-Jacke, die ihm der Kommandeur der Hundertschaft heute früh ausgehändigt hatte.
Nach der kurzen, aber sehr feierlichen Zeremonie in der Säulenhalle der Verwaltung sahen sich die Jungvermählten in die Augen und lächelten glücklich. Sie wollten sich gerade umdrehen und die Halle durch eine Seitentür verlassen, doch Bogumil schüttelte den Kopf und zeigte auf den Haupteingang. Zwei junge Männer öffneten die großen Holztüren. Draußen war es trüb, eine dunkle Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben.
Dennoch, Annas Augen wurden immer größer. Ein roter Teppich führte hinaus, direkt bis vor die Barrikaden. Gesäumt wurde er von einer Hundertschaft der Nationalen Selbstverteidigungstruppe. Stolz trugen alle ihr Erkennungsmerkmal – ein gelbes Halstuch.
Das berühmte blau-gelbe Klavier stand seit ein paar Wochen auf einer Holzplattform direkt auf dem ausgebrannten Wrack eines Polizeibusses. Sängerin Oksana spielte persönlich den Hochzeitsmarsch, manchmal etwas holperig, aber jeder erkannte die berühmte Melodie Mendelssohn-Bartholdys.
Annas Augen wurden feucht. Eine Freundin legte ihr noch eine helle Pelzstola um die nackten Schultern, dann schritt das junge Paar durch das Spalier der Kämpfer, vorbei an den aus Blechtonnen selbstgebauten Schutzschilden der 5. Hundertschaft. Alle salutierten, sogar der Diensthabende auf dem kleinen Wachturm am Ende der Barrikade.
Doch plötzlich ertönte ein schriller, kurzer Pfiff, ein Pfiff, den sie alle kannten, er kam vom Kommandeur persönlich. Und dann sahen sie ihn, einen völlig in Schwarz gekleideten Soldaten der Berkut-Spezialeinheit. Er hatte einen kleinen Wall am Ende der Barrikade erklommen, stand breitbeinig da, das Gewehr im Anschlag und zielte auf das Paar. Mitja riss Anna zu Boden, gleichzeitig bildeten die Kameraden der Selbstverteidigung mit ihren Schilden eine Art Schildkrötenpanzer rings um das junge Paar. Blitzschnell stürmten einige Kameraden nach vorn, auf den Berkut-Mann zu, der nach wie vor Schüsse auf die Gruppe abfeuerte. Es war zu hören, wie die Kugeln von den Schilden abprallten. Der Priester bekreuzigte sich.
Doch just in diesem Augenblick kam die Sonne hervor. Ein kräftiger Sonnenstrahl traf auf die schräg gestellten Schilde der ersten Reihe. Die blank geputzten Blechteile funktionierten wie ein Spiegel. Sie fingen die Sonnenstrahlen ein. Und diese gesammelten und gespiegelten Strahlen trafen den Berkut-Mann mit voller Wucht im Gesicht. Er ließ das Gewehr los und fasste sich an die Augen. Dann strauchelte er und fiel rückwärts den Wall hinunter.
Die Maidan-Kämpfer jubelten, sofort formierte sich eine neue Frontlinie zum Schutz der Hochzeitsgäste. Der Priester streckte die Hände gen Himmel und murmelte ein Dankesgebet.
Mitja half Anna hoch. Der rote Teppich, der in Wahrheit früher ein Leben als Teppich-Läufer in der Stadtverwaltung gefristet hatte, hatte wohl das Schlimmste verhindert. Das weiße Kleid strahlte noch immer. Nur die roten Mohnblumen waren etwas zerdrückt. Gemeinsam gingen das Paar und die Gäste in ein großes Zelt. Wenig später stießen alle mit Krimsekt an. Der Kommandant des Maidan persönlich hatte die Erlaubnis dazu erteilt, denn eigentlich galt auf dem Platz ein striktes Alkohol-Verbot.
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