Klaus Werner Hennig - Die Beichte meines Großvaters

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Capriccios sind skurrile Kurzgeschichten, in denen vielfältig, spannend und sozialkritisch über Gegenwärtiges erzählt wir. Auf dem Sterbebett beichtet ein Großvater seinem Enkel die Rassenvorurteile seiner Jugend gegen Juden, und was er in Bezug auf die Türken heutzutage beobachtet. Die Krankrenschwester, die ihn pflegt, ist Kurdin, bildschön. Wen wundert es, der Enkel heiratet sie. Eins ist gewiss, der Großvater wäre im höchsten Maße beglückt gewesen. – Ein türkisches Mädchen entflieht seiner Zwangsverheiratung und heiratet den Sohn der Eltern, bei denen sie Unterschlupf findet. – Die Freundin der verstorbenen Frau eines Witwers versucht diesen stattlichen Mann vergebens wieder zu verheiraten. Er entflieht nach Kiribati und heiratet dort ohne Umstände eine Einheimische. Heini denkt sich, ich werde Scheißefahrer bei Jauch & Söhne und mache dicke Kohle. Pustekuchen. – Meyer feiert Party. – Herbstlese im Garten des Museums.

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Klaus Werner Hennig

Die Beichte meines Großvaters

Capriccios IV

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Inhaltsverzeichnis Titel Klaus Werner Hennig Die Beichte meines Großvaters - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Klaus Werner Hennig Die Beichte meines Großvaters Capriccios IV Dieses ebook wurde erstellt bei

Die Beichte meines Großvaters

Immer öfter

Schneewittchen hinterm Haselstrauch

Die Versuche zur Wiederverheiratung des Witwers Heinrich Holsten

Der Plumpsack

Unterschicht II

Meyers Party

Herbstlese

Mohnkuchen mit Pflaumen

Impressum neobooks

Die Beichte meines Großvaters

Während seiner schweren Krankheit habe ich meinen Großvater täglich besucht. Ich spürte, er wollte sich mir anvertrauen. Er ahnte, bald sterben zu müssen und hatte sich durchgerungen, auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, am wenigstens auf sich selbst. Ich gebe zu, von meiner Seite waren sowohl Neugier als Wissbegierde im Spiel, letztere vornehmlich, denn Vergangenes von Zeitzeugen zu erfahren, schien mir für meinen Werdegang wichtig. Weshalb sollte es mich nicht interessieren, was sich früher wie, wo und warum mit oder ohne die Beteiligung meines Groß­vaters zugetragen hatte.

Meine Eltern, beruflich unterwegs, baten mich, meinen Großvater zu besuchen. Er lag im Krankenhaus auf der Intensivstation an Schläuchen und Elektroden. In zyklischen Kurven flimmerte sein messbares Befinden mehrfarbig über den Bildschirm, von rhythmischen Tönen begleitet. Ich mochte da gar nicht hinschauen, verspürte mit einem Mal den eigenen Herzschlag, was mich beträchtlich ängstigte. Schließlich war ich heilfroh, mich nach einer halben Stunde anständig verabschiedet zu haben. Er bat mich, bald wiederzukommen. Ich versprach es. Sonderlich wohl war mir dabei nicht, aber was sollte ich tun? Schließlich war er mein Groß­vater, meine Eltern waren beide im Ausland unterwegs, meine Geschwister auch nicht am Ort und Freunde oder nahe Verwandte hatte mein Großvater sonst keine mehr, das heißt, sie waren bereits verstorben oder selber krank und bettlägerig.

Am nächsten Tag ging es ihm scheinbar besser. Der Arzt benannte mir seinen Zustand als ernst aber stabil. Die Ausschläge auf dem Bildschirm und die damit verbundenen Piep-Töne wirkten gleichmäßiger. Das beruhigte mich. Ich entnahm einer Tüte, die ich ihm mitgebracht hatte, kernlose Weintrauben, süß und saftig, wusch sie ab und reichte sie auf einem Teller. Er zupfte davon einige Beeren, die er wie Bonbons im Mund behielt.

„Weißt du, mein Kleiner, was mir jetzt alles durch den Kopf schwirrt? An die Schläuche und Drähte gekettet kann ich ja kaum schlafen, dazu müsste ich mich auf den Bauch drehen können.“ Er schaute mich aus wässrigen Augen unbeholfen an, sprach verhalten, aber ich hatte das Gefühl, seine Gedanken waren so klar wie selten zuvor. Als wäre alles in seinem Leben nun bilanziert. Ich wurde verlegen, wusste nicht, was er meinte. Mein Kleiner hatte er zu mir gesagt, so wie in frühen Kindertagen. Da war ich der Kleine . Heute kommt es mir merkwürdig, fast komisch vor, so von ihm Kleiner genannt zu werden, wo ich doch nahezu einen halben Kopf größer bin als alle anderen unserer Familie. Aus Verlegenheit begann ich selbst von den Trauben zu naschen.

„Was ist dir denn durch den Kopf gegangen, Opa?“, fragte ich, um überhaupt etwas zu sagen.

„Lange, lange Geschichten“, winkte er mit der Hand ab. Um ihn abzulenken, erzählte ich, wo sich die Eltern zur Zeit aufhalten, aber er hörte kaum hin, schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Als ich ging, hatte ich die Weinbeeren nahezu restlos selber vertilgt. Dafür schämte ich mich.

Über Nacht schien sich mein Großvater gemausert zu haben. Er war frisch rasiert und hatte nachgerade auf meinen Besuch gelauert. Er richtete sich sogar ein wenig auf, als er mich freudig begrüßte.

„Es muss während der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre gewesen sein, ich ging noch zur Schule“, erzählte er mir sogleich, als habe er sich sorgfältig vorbereitet. „Da war ich mit meinem Vater im ehemaligen Scheunenviertel. Du weißt, die Gegend in Berlin, gleich hinterm Alex, in der Tante Maria seit dem Krieg wohnt. Er hatte dort geschäftlich zu tun. Uns liefen Männer in schwarzen Mänteln mit hohen Hüten auf dem Kopf und langen Locken an den Schläfen über den Weg, für mich seltsam und gruselig anzuschauen. Die mir eingeimpfte Kinderangst vorm schwarzen Mann wirkte. Ich wollte wissen, was das für merkwürdige Gestalten seien. Da sagte mein Vater, das wären streng orthodoxe Juden aus dem fernen Osten, die murmelten ständig rituelle Gebete, sprächen nicht unsere Sprache, hätten nicht unsere Gebräuche und mauschelten in betrügerischen Geschäften. Das Beste sei, mit denen nichts zu schaffen zu haben, sie nähmen letztendlich uns alles, würden immer kecker, heirateten stets ihresgleichen, heckten wie die Karnickel, bauten frech aufwändige Gebetshäuser vor unsere Kirchen und überhaupt, ich hatte das beklemmende Gefühl, von ihren stechenden Blicken, rauschenden Bärten und dem unverständlichen Gelaber bedroht zu sein. Mein Vater bestärkte mich in meinem Schauder und später las ich in einer Zeitung, wie berechtigt meine Furcht wäre, dann stand es bald in jeder Zeitung: Die Juden sind unser Unglück und an die Schaufenster wurde geschmiert: Kauft nicht bei Juden! Juda verrecke!

Mein Großvater schien außer Atem, röchelte sogar, nahm meinen Arm mit beiden Händen, zog sich daran leicht nach oben und flüsterte in mein Ohr: „Ich war dabei, als auf die Schaufenster der Obst- und Gemüseläden in der Bölschestraße Kauft nicht bei Türken gesprüht worden ist. Darunter ein Halbmond und Kanake verrecke. “ Kraftlos sank er auf das Kissen zurück. Seine Augen flackerten flehentlich, als erbitte er von mir Absolution, und ich fragte mich, ob es nicht angemessen wäre, einen Priester zu holen, wenn ich nicht genau gewusst hätte, mein Großvater wäre sicher der Letzte, an einen Gott zu glauben, geschweige an sich ein religiöses Zeremoniell zu erdulden.

Die Schwester kam herein. Eine strenge, dunkelhaarige Schönheit. Auf meine besorgte Frage schüttelte sie beruhigend den Kopf und ihre schwarzen Augen strahlten in mildem Glanz. Nein, seit seiner Einlieferung sei mein Großvater fieberfrei. Warum war ich von ihrer Stimme so berührt? Trotzdem, sie beruhigte mich nicht, denn in einem solchen Zustand kannte ich meinen Großvater nicht. Schließlich bin ich weder Arzt noch Seel­sorger. Ich befürchtete, sein letztes Stündlein sei gekommen. Ich überlegte, meine Eltern zu alarmieren, sie umgehend an sein Krankenbett zu bitten. Aber zu Hause war ich wieder gefasst, sah keinen Grund, in Panik zu verfallen. Sicherlich belastete meinen Großvater das vorhin Geschilderte furchtbar, wenn man bedenkt, wie alles mit den Juden in Deutschland angefangen und wohin es geführt hatte und nun das Gleiche in Grün mit den Moslems? Die Juden fressen mittags Neugeborene, pissen abends in die Taufbecken, behaupten, wir seien nicht koscher und vergiften nachts unsere Brunnen. Die Türken nehmen uns die Arbeit, beschimpfen uns als Ungläubige, unterstellen uns Fremdenfeindlichkeit, basteln an monströsen Kofferbomben, möchten einen Gottesstaat errichten, ver­schachern ihre Töchter, schlagen ihre Frauen und wickeln sie lebenslang in graue Tücher ein.

Am nächsten Tag hätte ich einen guten Grund gehabt, meinen Großvater nicht zu besuchen. Ich sollte auf Dienstreise in eine andere Stadt, bat aber meinen Chef, für einige Zeit nur am Ort tätig sein zu dürfen, denn auf meine Art war ich meinem Großvater sehr verbunden. Mein erstes Angelzeug habe ich von ihm, den Unterschied zwischen Knüttepfriem und Knüttespune zum Netzflicken, sowie zwischen Flügelreuse und Ballreuse für den örtlichen Fang von ihm gelernt, einen Fischhälterkasten aus Eichenholz hat er mir gebaut und aus Weidenruten einen Aalkorb geflochten, mit dem ich allerdings niemals auch nur einen Aal erwischte. Der Wels, den mein Großvater einst aus dem Wasser gezogen haben wollte, wurde in seinen Erzählungen von Jahr zu Jahr größer und schwerer. Trotzdem, vom Angeln und Fischen wusste er eine Menge von seinem Großvater wiederum, der noch Fischer in Ketzin im Havelland gewesen war. Außerdem hat mein Großvater mir Rad fahren, Skat dreschen, Pokern und, was meine Eltern bis heute nicht wissen sollten, vorzeitig Auto fahren beigebracht. Schließlich hatten wir gemeinsam eine richtige Höhle gebaut, in der ich fast aufrecht stehen konnte. Davor kauernd las er mir aus

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