164Insgesamt sind also die begrifflichen Elemente und die Erscheinungsformen der Straftat im Jugendstrafrecht die gleichen wie im allgemeinen Strafrecht. Die jugendstrafrechtliche Sonderregelung bezieht sich vor allem auf die rechtlichen Folgen, welche die Straftat nach sich zieht. Hier ist die für die Erwachsenen geltende Regelung der Rechtsfolgen im dritten Abschnitt des Allgemeinen Teils des StGB, der insbesondere von den Strafen, der Strafbemessung, der Strafaussetzung und den Maßregeln der Besserung und Sicherung handelt, in ihrem weitaus größeren Teil durch die abweichenden Bestimmungen der §§ 5 bis 31 JGG ersetzt. Da nun aber wichtige Bestimmungen des StGB (z. B. § 12 I und II mit der Zweiteilung der Straftaten in Verbrechen und Vergehen) auf die im Jugendstrafrecht nicht geltenden Vorschriften des StGB über die Strafen Bezug nehmen, bestimmt § 4 JGG zur Klarstellung ausdrücklich, dass die Frage, ob eine Straftat eines Jugendlichen als Verbrechen oder Vergehen anzusehen ist und wann sie verjährt, nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts zu entscheiden ist.
Beispiel:
Der Raub ist nach § 12 StGB in Verbindung mit § 249 StGB ein Verbrechen, weil er mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bedroht ist. Im Jugendstrafrecht beträgt das Mindestmaß der Jugendstrafe, soweit überhaupt eine Jugendstrafe als Sanktion angebracht erscheint, 6 Monate. Trotzdem ist auch der von einem Jugendlichen begangene Raub ein Verbrechen, sein Versuch daher auch nach § 23 StGB strafbar. Die Strafverfolgungsverjährung tritt auch hier gemäß § 78 StGB nach 20 Jahren ein.
165In gleicher Weise richtet sich auch das Verfahren vor den Jugendgerichten nach den Vorschriften der Strafprozessordnung, soweit nicht die §§ 43–81 und § 109 JGG abweichende Vorschriften für das Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende enthalten (Näheres unten Rn. 635 ff.).
V.Die Anwendung des „milderen Gesetzes“
166Das Jugendstrafrecht stellt sich gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht in Bezug auf die Art und Schwere seiner Rechtsfolgen nicht so sehr als ein minus als vielmehr ein aliud dar. Dementsprechend lässt sich die Frage, ob das Jugendstrafrecht oder das allgemeine Strafrecht das mildere Recht ist, auch nicht leicht beantworten. Die Frage nach dem milderen Recht tritt dabei nicht nur wiederholt in der kriminalpolitischen Diskussion auf, sondern ist auch für die gerichtliche Praxis von nicht unerheblicher Bedeutung, so etwa, wenn bei unaufklärbarem Sachverhalt (hinsichtlich des Alters oder des Reifegrades des Täters z. Z. der Tat) gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nach dem milderen Gesetz zu entscheiden ist. Ebenso kann das Verbot der reformatio in peius (genauer: der Schlechterstellung im Strafmaß, §§ 331, 358 II, 373 II StPO) im Rechtsmittelverfahren einen Vergleich zwischen den Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts und des allgemeinen Strafrechts erforderlich machen.
Beispiele:
(1) Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, welcher Altersgruppe der Täter z. Z. der Begehung der Tat angehört hat. 287
(2) Bei einem 18-jährigen Täter kann das Vorliegen einer Reifeverzögerung, die nach § 105 I Nr. 1 JGG die Anwendung von Jugendstrafrecht zur Folge haben müsste, wegen widerstreitender Sachverständigengutachten nicht hinreichend geklärt werden. 288
(3) Ein Heranwachsender wird, weil seine Tat als Jugendverfehlung (§ 105 I Nr. 2 JGG) angesehen wird, in der ersten Instanz zu einer Jugendstrafe von 8 Monaten verurteilt. Er legt gegen das Urteil Berufung ein, und das zweitinstanzliche Gericht kommt zur Überzeugung, dass die Tat keine Jugendverfehlung darstellt. Würde eine nunmehr gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe nach StGB von gleicher Dauer gegen das Verbot der reformatio in peius verstoßen? Würde das auch bei einer Erwachsenenstrafe von nur 6 Monaten der Fall sein?
167Die in diesen und anderen Fällen erforderliche Entscheidung, ob das Jugendstrafrecht oder das allgemeine Strafrecht das mildere und deshalb im Zweifel anzuwendende Recht ist bzw. wie die Rechtsfolgen des einen und des anderen Rechts vergleichsweise zu bewerten sind, lässt sich nicht generell vorherbestimmen. Insbesondere wäre die Behauptung, dass das Jugendstrafrecht stets das mildere Recht ist, in dieser Pauschalität nicht richtig. Zwar wird in der Mehrzahl der Fälle das Jugendstrafrecht tatsächlich zu einer in die Freiheitssphäre des Beschuldigten weniger eingreifenden, insofern also milderen Entscheidung führen. Aber dies ist keineswegs immer der Fall, wie u. a. das gegenüber der Freiheitsstrafe des StGB wesentlich höhere Mindestmaß der Jugendstrafe (6 Monate, § 18 JGG) zeigt. Welches Gesetz das mildere und damit nach dem Grundsatz „in dubio pro“ auf den konkreten Einzelfall anzuwendende ist, kann nie abstrakt, sondern immer nur unter den Bedingungen und mit Bezug zum konkreten Einzelfall bestimmt werden. Dazu muss der Richter die Ergebnisse vergleichen, die in diesem Fall bei einer Sanktionsentscheidung nach Jugendstrafrecht einerseits und einer Sanktionsentscheidung nach dem allgemeinen Strafrecht andererseits im Raum stehen. 289Würde bei Anwendung von Jugendstrafrecht von Strafe abzusehen sein, weil Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel ausreichen, das allgemeine Strafrecht aber zu einer Freiheitsstrafe führen, so ist Jugendstrafrecht anzuwenden. Schwieriger ist der Vergleich von Jugendstrafe und Freiheitsstrafe nach StGB. Bei gleicher Dauer ist die Jugendstrafe wegen ihres aufgelockerten Vollzugs, der Möglichkeit einer Reststrafenaussetzung, wenn bereits ein Drittel der Strafe verbüßt ist (§ 88 II S. 2 JGG), und der für den Verurteilten günstigeren strafregisterlichen Behandlung regelmäßig als milder anzusehen. 290In dem oben erwähnten Beispiel 3 würde es also unzulässig sein, die erstinstanzliche Jugendstrafe von 8 Monaten in der zweiten Instanz durch eine Erwachsenenstrafe von 8 Monaten zu ersetzen. Dagegen würde eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten kaum gegen das Verbot der reformatio in peius verstoßen.
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