135Historisch gesehen mag dieses Bild, das „Erziehung“ als Gegenpol zur sühnenden Strafe beschreibt und das jugendstrafrechtliche Spannungsverhältnis aus einer Absatzbewegung vom Pol der Strafe nach dem Konzept „Erziehung statt Strafe“ entwickelt, nicht unmittelbar nachweisbar sein, denn der „Erziehungsgedanke“ diente in den Anfängen der Jugendgerichtsbewegung auch als „Kompromissformel“, um zwischen der klassischen Strafrechtsschule mit ihrem Leitbild der Vergeltungsstrafe und der modernen Strafrechtsschule nach Franz v. Liszt mit ihrer auf Individualprävention abzielenden Zweckstrafe zu vermitteln. 240Der Kompromiss gelang deswegen, weil der Erziehungsbegriff in den Anfängen des letzten Jahrhunderts schwer am Ballast der zeitgenössischen Pädagogik trug, die nicht das Prinzip „Erziehung statt Strafe“, sondern den Grundsatz der „Erziehung durch Strafe“ propagierte. Das machte es der modernen Strafrechtsschule leicht, Erziehungsgedanke und absolute Strafzwecke in eins zu setzen und so Vergeltungs- und Sühneelementen in ihr individualpräventives Verständnis von Strafe hineinzuinterpretieren. 241Aus der ursprünglich mit dem Erziehungsgedanken verfolgten Idee, Erziehung als eine Absatzbewegung von der Strafe, als ein „antipunitives“ Programm zu entwickeln, wurde damit ein Erziehungskonzept, das eher der Strafe nahestand. Die Ideen Erziehung und Strafe wurden dadurch nahezu austauschbar.
136Fruchtbarer für ein wirkungsvolles Jugendstrafrecht erscheint uns aber der hier vertretene „Erziehungsbegriff“, der die Notwendigkeit einer flexiblen, individualisierenden Sanktion betont und die Jugendgerichte anleitet, sich für die Auswahl der angemessenen Sanktion bewusst die Spannungen zwischen den Gegenpolen „Erziehung“ und „Strafe“ zunutze zu machen. Im Einzelnen gelten dabei folgende (nicht abschließende) Leitlinien: Auf Straftaten Jugendlicher ist möglichst rasch mit dem breit gefächerten Instrumentarium des Jugendstrafrechts zu reagieren, ohne dass zugleich überzogene Erwartungen an spezialpräventive Erfolge mittels der einen oder anderen Maßnahme gesetzt werden sollten. In vielen Fällen wird es als erzieherisch sinnvolles Programm durchaus genügen, dem Jugendlichen ein deutliches Zeichen zu setzen, dass die Gemeinschaft keinerlei Straftaten toleriert. Diese Missbilligung kann auch in Form der Einstellungen gegen bestimmte „Gegenleistungen“ gem. §§ 45 II, III JGG erfolgen. Die völlig folgenlose Einstellung gem. § 45 I JGG sollte allerdings auf die Ersttäter mit geringfügigen Delikten beschränkt bleiben. Neoklassizistischen Forderungen nach mehr Vergeltung und damit mehr strafenden Elementen im Jugendstrafrecht sind abzulehnen. Sie verzerren das Spannungsverhältnis zwischen den Polen einseitig in die Richtung des Strafpols, ohne dass dies kriminalpräventiven Gewinn versprechen würde. Erziehung und Strafe sind einander entgegengesetzte, damit aber auch voneinander nicht zu trennende Pole eines Spannungsfeldes, in dem für jeden Einzelfall unter Ausschreiten der Möglichkeiten des gesamten Spannungsfeldes eine vermittelnde, individualisierende Sanktionslösung gefunden werden muss. Erziehung und Strafe können nicht in eins gesetzt, aber auch nicht völlig losgelöst voneinander betrachtet werden, so wie dies z. T. im Zuge der Schaffung eines 2. JGGÄndG aus den Kreisen der DVJJ vorgeschlagen wurde. 242Vielmehr bleibt es immer bei einem Neben- und Gegeneinander von Strafe und Erziehung im gesamtenJugendstrafrecht, ungeachtet bzw. wegen der sich daraus ergebenden unvermeidlichen Spannungen.
137Auch die folgende Darstellung geht von diesem untrennbaren Miteinander- bzw. Gegeneinanderwirken der beiden Prinzipien Erziehung und Strafe aus, weil wir eine ausgewogene Vermittlung zwischen den beiden Idealpolen im Jugendstrafrecht für möglich und kriminalpolitisch richtig halten. 243Trotz steigender Jugendkriminalität ist eine umfassende Verschärfung des JGG nicht indiziert, weil bereits jetzt ein breit gefächertes Sanktionsarsenal existiert, bis hin zur 10-jährigen Jugendstrafe für Jugendliche. Seit Oktober 2012 kann bei Heranwachsenden für Mord bei besonderer Schwere der Schuld sogar eine 15-jährige Jugendstrafe verhängt werden (§ 105 III S. 2 JGG). Jedoch ist sehr zweifelhaft, ob es für eine solche exzessive Erhöhung der bisherigen Strafobergrenzen tatsächlich Bedarf gab, 244zumal die Gewaltbereitschaft junger Menschen in den letzten Jahren nicht oder allenfalls leicht zugenommen hat, sondern vielmehr nur die die mediale Vermarktung von Gewaltkriminalität aggressiver geworden ist. 245Schwere Jugendkriminalität hätte also auch mit den bereits zuvor vorhandenen Mitteln im Sanktionskatalog des JGG wirksam bekämpft werden können. Selbst bei den Ausschreitungen gegenüber Ausländern und anderen Minderheiten bedarf es keiner erhöhten Strafrahmen, vielmehr muss das bestehende Jugendstrafrecht nur angemessen angewandt werden. 246Es bedarf daher auch keiner echten Reform des Jugendstrafrechts in seiner geltenden Fassung, sondern vielmehr staatlicher finanzieller Unterstützung, um die Anwendung desselben in seiner gesamten Bandbreite zu ermöglichen. 247Bei sehr jungen Intensivtätern darf etwa die Möglichkeit der Anordnung von Heimerziehung gem. § 12 Nr. 2 JGG, der Teilnahme an sozialen Trainingskursen oder an einem Täter-Opfer-Ausgleich nicht durch das nahezu gänzliche Fehlen geeigneter Institutionen und Angebote der Jugendhilfe konterkariert werden. Die immer wieder geforderte Abkehr von der jugendstrafrechtlichen Einheitsstrafe hin zu einem Erwachsenenstrafrecht, das für Jugendliche nur besondere Schuldminderungsgründe oder milde Strafrahmenkataloge unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Entwicklungsstandes bereit hält, 248bleibt abzulehnen. Zwar haben eine Reihe europäischer Länder und die USA diesen Weg eingeschlagen, aber man darf nicht vergessen, dass das deutsche Jugendstrafrecht gerade wegen seines sehr differenzierten Umgangs mit Jugendlichen für andere Rechtsordnungen eine Vorbildfunktion übernommen hat und in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung auch an internationalen Standards gemessen werden kann. Die vorschnelle Abkehr vom Erziehungsgedanken vermag diese erzielten Erfolge schnell zunichte zu machen.
IV.Jugendstrafrecht nach dem JGG auf dem Gebiet der ehemaligen DDR
138Nach dem Beitritt der DDR zur BRD gilt das JGG auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Im Einigungsvertrag aus dem Jahre 1990 sind jedoch einige wenige spezielle Regelungen vereinbart worden. 249
V.Jugendstrafrecht in anderen europäischen Staaten
139Von den Jugendstrafgesetzen unserer Nachbarstaaten 250hat das Österreichische JGG 1988auch in der Bundesrepublik besondere Beachtung gefunden. Es galt in vielen Punkten als vorbildlich. Das betrifft etwa die Regelung des Täter-Opfer-Ausgleichs („Außergerichtlicher Tatausgleich“ – ATA), aber auch die zahlreichen und differenzierten Möglichkeiten des Strafverzichts bei „ubiquitärer“ Jugendkriminalität mit geringer Schuld, die von materiell-rechtlichem Strafausschluss über verfahrensrechtliche Diversionsformen bis zum Schuldspruch ohne Strafe und mit Strafvorbehalt reichen. Das österreichische Recht bekennt sich absolut zum Vorrang der Diversion, sowohl in der Form einer schlichten Diversion als auch einer intervenierenden Diversion mit der Folge, dass ein sehr hoher Prozentsatz aller Verfahren gegen Jugendliche ohne formellen Schuldspruch und ohne Verurteilungswirkung erledigt werden kann. 251Hinsichtlich der Unrechtsfolgen gilt das Subsidiaritätsprinzip, also ein abgestufter Katalog der Unrechtsfolgen mit Vorrang der Diversionsmaßnahmen. Als Sanktionszweck wird ausdrücklich die Legalbewährung, also die Individualprävention genannt. Erziehung darf nur mit Blick hierauf stattfinden. Aspekte der (positiven) Generalprävention werden aber herangezogen, um den Möglichkeiten zu einem informellen Verfahrensverzicht auch Grenzen zu setzen. Die Höhe der verhängten Strafen ist durch die Einzeltatschuld begrenzt. Es gelten – anders als im deutschen Recht – die Strafzumessungsregeln des allgemeinen Rechts aus §§ 32 ff. des Österr. StGB. Den Jugendarrest kennt das Österr. JGG nicht, wohl aber die Geldstrafe und die problematische Freiheitsstrafe mit einer Mindestdauer von 1 Tag. Weisungen und Auflagen werden mit vorläufiger Einstellung des Verfahrens kombiniert, so dass bei Nichtbefolgung die Wiederaufnahme des Verfahrens droht. In das Österr. JGG sind Heranwachsende – dort sog. „junge Erwachsene“ nur prozessual mit einbezogen, während materiell für sie grundsätzlich die Strafrahmen, Strafsätze und Strafzumessungsregeln des Erwachsenenstrafrechts gelten, jedoch mit der Ausnahme, dass die Begehung einer Straftat vor Vollendung des 21. Lebensjahres einen besonderen Milderungsgrund nach § 34 I Ziff. 1 Österr. StGB bildet und anstelle der lebenslangen Strafe nur eine Höchststrafe von 20 Jahren verhängt werden kann. 252§ 36 Österr. StGB sieht weitere Strafrahmenverschiebungen zugunsten des jungen Erwachsenen vor. Außerdem muss auch der junge Erwachsene bei einer Strafaussetzung zur Bewährung zwingend der Bewährungshilfe unterstellt werden.
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