1 ...8 9 10 12 13 14 ...27 56a e) Radikalisierungsphänomene.Unter „Radikalisierung“ wird die Bereitschaft verstanden, das geltende gesellschaftliche und/oder rechtliche System zu verändern, wenn es nicht mit der eigenen Weltvorstellung übereinstimmt. 95 Bock unterscheidet die primäre von der sekundären Radikalisierung. 96Primäre Radikalisierung kann bei denjenigen Jugendlichen eintreten, die eine Sinnkrise durchleben und auf der Suche nach einer neuen Identität sind. Diesen Sinn glauben sie vermeintlich in einer bestimmten extremen Auffassung zu finden. Eine Sinnsuche kann u. a. auf psychischer Instabilität oder der Unzufriedenheit im sozialen Umfeld beruhen, 97vor allem auch auf der ständigen Konfrontation mit gesellschaftlicher Islamfeindlichkeit und anderen Stereotypen. 98Die Hemmschwelle vor der Begehung von Straftaten ist bei diesen Sinnsuchern groß. Anders bei sekundär radikalisierten Jugendlichen. Diese haben bereits Erfahrung mit (allgemeinen) Straftaten und finden Rechtfertigungen für ihre Handlungen und in radikalen Parolen ein eigenes positives Selbstbild und für ihre kriminellen Neigungen einen höheren Sinn. Aktuell stehen drei Radikalisierungsphänomene im Fokus: Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus. Jede Form des Extremismus hat für sich eigenständige Einflussfaktoren, die jedoch teilweise überlappen können. 99
III.Kriminalität junger Menschen mit Migrationshintergrund
57Umstrittenes Thema vielfacher Diskussionen ist die Kriminalität junger Menschen mit Migrationshintergrund . 100Dabei wies die sog. „erste Gastarbeitergeneration“ keine überproportional hohe Kriminalitätsbelastung auf. Ihr Anteil an den Tatverdächtigen entsprach dem Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung. Doch ab dem Jahr 1973 nahm die Zahl der tatverdächtigen Ausländer dann erheblich zu, ohne dass dem ein entsprechender Zuwachs der nichtdeutschen Wohnbevölkerung entsprochen hätte.
58Die damaligen hohen Werte der ausländischen Tatverdächtigen (bei der Verurteiltenstatistik ist die Höherbelastung weniger ausgeprägt) wurden zu einem beträchtlichen Teil durch die besonders stark belasteten Gruppen der Jugendlichen und Heranwachsenden, also der sog. „zweiten“ bzw. „dritten“ Gastarbeitergeneration verursacht. Aus der polizeilichen Kriminalstatistik war bis 1989 101erkennbar, dass in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die registrierte Ausländerkriminalität bei den Jugendlichen und Heranwachsenden etwa dreimal so hoch war wie bei den Deutschen aus derselben Altersstufe. Von einer Kriminalität der Gastarbeiterkinder kann heute in der dritten und vierten Generation allerdings nicht mehr gesprochen werden. Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen stagnierte laut polizeilicher Kriminalstatistik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bis etwa 2014 bei einem Wert zwischen 20,9 und 25,7 % aller Tatverdächtigen. Das war erheblich weniger, als noch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. 102Von 33,6 % im Jahr 1993 sank der Wert in einer Wellenbewegung bis auf 20,9 % aller Tatverdächtigen im Jahr 2008. Ab 2014 schnellte der Ausländeranteil an den Tatverdächtigen jedoch wieder in die Höhe, von 28,7 % im Jahr 2014 über 40,4 % im Jahr 2016, sank aber zuletzt im Jahr 2018 wieder auf 34,5 %. 103Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Strafverfolgungsstatistik – anders als die Polizeiliche Kriminalstatistik – die typischerweise nur von Ausländern begehbaren Delikte wie Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, das Asylgesetz und das Freizügigkeitsgesetz/EU nicht herausrechnet. Deswegen könnte der von der Polizeilichen Kriminalstatistik vermittelte Eindruck einer sinkenden Ausländerkriminalität im Bereich der allgemeinen Delikte tatsächlich zutreffen. Hinzuweisen ist weiterhin darauf, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik einen Migrationshintergrund nicht generell berücksichtigen kann, sondern nur nach Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen klassifiziert. Über die Kriminalität von Menschen mit Migrationshintergrund können daher letztlich nur Dunkelfeldstudien eine Aussage treffen. Auch unterscheidet die Polizeiliche Kriminalstatistik seit 2016 zwischen Nichtdeutschen und „Zuwanderern“, d. h. zwischen Nichtdeutschen, die sich erlaubt in Deutschland aufhalten (Personen mit einem ständigen Aufenthaltstitel, EU-Bürger, Touristen, etc.), auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer Gruppe bestehend aus Asylbewerbern, Schutz- und Asylberechtigten, Kontingentflüchtlingen, geduldeten Personen und solchen ohne Aufenthaltserlaubnis.
59Der Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Kriminalität ist komplex. Eine spezifische Form von Ausländerkriminalität gibt es nicht. Ebenso wenig lassen sich für Gruppen mit Migrationshintergrund einheitliche Kriminalitätsbelastungsfaktoren aufzeigen. Die Kriminalstatistiken verzichten heute größtenteils darauf, die ausländischen Tatverdächtigen nach dem Grad ihrer Integration in die Gruppen: Arbeitnehmer mit Aufenthaltserlaubnis, Illegale, Asylanten, Durchreisende/Touristen, Studenten/Schüler oder Gewerbetreibende zu unterscheiden, sondern weisen nur noch Staatsangehörigkeiten aus. Auffällig bleibt in der Ausländerkriminalität, dass Nichtdeutsche weiterhin einen (im Vergleich zu ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung) überproportional hohen Anteil an den Tatverdächtigen stellen. 104In den letzten Jahren fiel ferner auf, dass ausländische Tatverdächtige insgesamt überproportional bei Straftaten wie Diebstahl vertreten waren und bei zahlreichen Straftaten, die einen hohen Organisationsgrad erfordern, z. B. beim illegalen Handel mit harten Drogen oder Menschenhandel. 105Bei den Jugendlichen fielen die nichtdeutschen Tatverdächtigen damit auf, dass sie innerhalb ihrer Altersgruppe höhere Anteile an Diebstahlsdelikten und Bedrohung sowie bei Körperverletzungsdelikten hatten als deutsche Jugendliche. 106
60Die Kriminalitätsbelastung der „Zuwanderer“, die in den 90er Jahren sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zog, ist mittlerweile nicht mehr Gegenstand der Diskussion. Das Phänomen der „Zuwanderungskriminalität“ betraf vor allem Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. 107Nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln 108verlagerte sich das mediale und wissenschaftliche Interesse insbesondere auf die Flüchtlingswelle der letzten Jahre und die hierdurch steigende Kriminalität.
In der polizeilichen Kriminalstatistik wurden für das Jahr 2018 als tatverdächtige Jugendliche und Heranwachsende 26,8 % Nichtdeutsche registriert. Der Anteil der tatverdächtigen Zuwanderer unter diesen nichtdeutschen Jugendlichen und Heranwachsenden betrug wiederum 24,1 %. 109
Die Gründe für delinquentes Verhalten von Migranten sind vielschichtig. Ein Erklärungsansatz, der sog. sozioökonomische Ansatz, sieht eine Ursache delinquenten Verhaltens darin, dass einem Individuum nicht ausreichend legitime Mittel zur Verfügung stehen, um allgemein erstrebenswerte Ziele zu erreichen. Der Rückgriff auf illegale Mittel erscheint dem Individuum möglicherweise als einzige Möglichkeit, um seinen Zielen näherzukommen. 110Der subkulturtheoretische Ansatz betont dagegen, dass Migranten einer Diskrepanz zwischen den Normen und Werten des Aufnahmelandes und dem Heimatland ausgesetzt sind. Wenn nachfolgende Generationen sich dann zunehmend an die Normen und Werte des Aufnahmelandes anpassen, können Konflikte mit den älteren Generationen entstehen, wenn letztere weiterhin nach den Weltbildern des Heimatlandes leben. 111Die sozioökonomische Benachteiligung und der Rückzug in die Subkultur haben zudem Bedeutung bei der Bildung von Banden oder Cliquen, in denen Jugendliche möglicherweise ihr eigenes, vielleicht auch aus Gewalterfahrungen in den eigenen Familien gewonnenes, gewaltgeneigtes Werte- und Normensystem entwickeln. Mit einem höheren Anteil deutscher Freunde sinkt dagegen laut Statistiken die Gewaltneigung. Daher werden interethnische Kontakte als sehr wichtig erachtet. 112Der dritte Erklärungsansatz betont, dass in Gebieten mit schlechten ökologischen Bedingungen und einem niedrigen sozialen Status soziale Organisation und Zusammenhalt fehlen. Die Konzentration polizeilicher Kontrollen auf solchen Gebieten könne zu Spannungen mit der Polizei führen und zu einem verstärkten Registrierungsrisiko. 113Allen Ansätzen ist gemein, dass der Status als „Ausländer“ oder „Migrant“ grundsätzlich keine Aussage über die Kriminalitätsgefährdung hergibt. Vielmehr ist die besondere „Lebenslage“ für die Entwicklung von Kriminalität ausschlaggebend. 114
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