2.Beginn und Ende der Grundrechtsfähigkeit natürlicher Personen
116Träger von Grundrechten kann grundsätzlich jede lebende natürliche Person sein . 22So lässt auch das bürgerliche Recht die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt beginnen (vgl. § 1 BGB). Die Grundrechtsfähigkeit natürlicher Personen endet mit dem Tod. Welcher Zeitpunkt den Tod markiert, ist umstritten und noch nicht bundesverfassungsgerichtlich geklärt. Insoweit käme der sog. Hirntod (also der irreversible Funktionsverlust des Gehirns in seiner Gesamtheit) in Betracht. 23Nach anderer und richtiger Auffassung markiert den verfassungsnormativen Todeszeitpunkt das irreversible Herz-Kreislaufversagen. 24
117Die Rechtsprechung hat in Einzelfällen Ausnahmen von diesen Grundsätzen anerkannt. So kommen die Menschenwürde und das Recht auf Leben „jedenfalls ab dem 14. Tag nach der Empfängnis“ auch dem Nasciturus zugute. 25Ob er Grundrechtsträger 26oder nur Begünstigter einer staatlichen Schutzpflicht 27ist, ist streitig, das BVerfG hat dies bislang offen gelassen. Ebenfalls umstritten ist, ob auch eine Grundrechtsberechtigung vor diesem Zeitpunkt in Betracht kommt. 28
Anerkannt ist ferner ein allgemeiner Achtungsanspruch des Verstorbenen ( postmortaler Persönlichkeitsschutz ). Die Rechtsgrundlage ist jedoch umstritten. Während ein Schutz des Verstorbenen aus Art. 2 Abs. 1 als Folge des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von den Zivilgerichten bejaht wird, 29leiten das BVerfG 30und das Schrifttum 31den postmortalen Schutz ausschließlich aus dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 her.
3.Grundrechtsmündigkeit Minderjähriger
118Die Grundrechtsmündigkeit bezeichnet die Fähigkeit natürlicher Personen, Grundrechte selbstständig ausüben zu dürfen. 32Diese Frage ist streng zu trennen von der Überlegung, ob jemand grundrechts fähig ist. Auch Minderjährige sind selbstverständlich Träger von Grundrechten, es geht nur darum, ob sie dieses Grundrecht auch selbständig ausüben können. 33
119Obwohl Parallelen nicht von der Hand zu weisen sind, ist die Grundrechtsmündigkeit weder mit der Geschäftsfähigkeit noch mit der Prozessfähigkeit identisch. 34
120 a) Das Verhältnis des Minderjährigen zur Staatsgewalt.Zur Grundrechtsmündigkeit Minderjähriger werden im Schrifttum unterschiedliche Auffassungen vertreten. Teils wird auf die natürliche Einsichtsfähigkeit als Voraussetzung eigenverantwortlicher Grundrechtsausübung abgestellt. 35Anderer Ansicht nach seien für die Grundrechtsmündigkeit bestimmte gesetzlich festgelegte Altersgrenzen entscheidend. So soll sich die Grundrechtsmündigkeit an den Vorschriften des BGB zur Geschäftsfähigkeit orientieren, wenn die Grundrechtsausübung mit privatrechtlichen Rechtsgeschäften verbunden ist (z. B. Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1). 36Knüpfen Grundrechte hingegen allein an die menschliche Existenz an (z. B. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2), soll ihre Ausübung nicht vom Erreichen einer Altersgrenze abhängen. 37Eine weitere Auffassung, die die Grundrechtsmündigkeit aller Minderjährigen anerkennt, will im Verhältnis des Minderjährigen zum Staat auf Altersgrenzen gänzlich verzichten. 38Das Grundgesetz selbst sieht mit Ausnahme der Art. 12a Abs. 1 und Art. 38 Abs. 2 kein Mindestalter des (Grundrechts) Berechtigten vor.
121 b) Das Verhältnis des Minderjährigen zu seinen Eltern.Im Verhältnis des Minderjährigen zu seinen Eltern kann es bei der Grundrechtsausübung zu Kollisionen mit dem Elternrecht (vgl. Art. 6 Abs. 2) kommen. Derartige Kollisionen sind nicht mit dem gängigen dogmatischen Zugriff „Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung“ zu erfassen, weil Private nicht in Grundrechte anderer Privater eingreifen können. 39Art. 6 Abs. 2 gewährt den Eltern also kein Eingriffsrecht gegenüber den minderjährigen Kindern 40, es ist vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers, normative Regelungen für auftretende Konfliktlagen (etwa im Kontext religiöser Selbstbestimmung oder der körperlichen Unversehrtheit) zu treffen. 41Das Elternrecht erstreckt sich auf alle Gegenstände der Personen- (§§ 1626 ff. BGB) und der Vermögensorge (§§ 1638 ff. BGB), beinhaltet mithin die Sorge für das körperliche Wohl (Pflege), die seelische und geistige Entwicklung, die Bildung und Ausbildung des Kindes (Erziehung), 42also eine umfassende Verantwortung der Eltern für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes. 43Aus dem Elternrecht folgt ein allgemeines, aber nicht unbegrenztes Entscheidungsrecht der Eltern gegenüber dem minderjährigen Kind. 44Die Befugnisse aus dem Elternrecht nehmen mit zunehmendem Alter des Kindes ab und erlöschen mit dessen Volljährigkeit (vgl. auch § 1626 Abs. 2 BGB). 45
122 Sonderregelungen zur eigenständigen Grundrechtswahrnehmung durch Minderjährige bestehen für den Bereich der Religionsausübung (sog. Religionsmündigkeit ). § 5 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) 46lautet:
„Nach der Vollendung des 14. Lebensjahrs steht dem Kind die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das 12. Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden.“
123 c) Prozessfähigkeit des Minderjährigen im Verfassungsbeschwerdeverfahren.Das BVerfGG enthält keine Vorschriften zur Prozessfähigkeit der Beteiligten. Die Regeln des allgemeinen Prozessrechts, wonach sich der Minderjährige in einem Rechtsstreit von seinen gesetzlichen Vertretern vertreten lassen muss (vgl. §§ 51 ZPO, 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), können nicht ohne weiteres auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren übertragen werden. 47Vielmehr ist nach der Rechtsprechung des BVerfG
„die Prozessfähigkeit zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde […] auch bei einem noch nicht Volljährigen gegeben, wenn er die nötige Einsicht in die Voraussetzungen und den Zweck einer Verfassungsbeschwerde gegen die ergangenen Entscheidungen und an der Fähigkeit zur ordnungsgemäßen und selbstständigen Führung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hat.“ 48
124Da es für die Prozessfähigkeit auf die Einsichtsfähigkeit des Beschwerdeführers ankommt, ist ein 14-Jähriger bezüglich des Grundrechts der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (vgl. § 5 RelKErzG) und ein 17-Jähriger für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als prozessfähig anzusehen. 49
Sind die sorgeberechtigten Eltern wegen eines Interessenkonflikts an der Wahrnehmung der Interessen ihres Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren verhindert, muss ein Ergänzungspfleger bestellt werden. 50
III.Juristische Personen als Grundrechtsträger
Literatur:
Badura, P., Grundrechte der Gemeinde?, BayVBl. 1989, 1; ders., Die Unternehmensfreiheit der Handelsgesellschaften. Ein Problem des Grundrechtsschutzes juristischer Personen des Privatrechts, DÖV 1990, 353; Bethge, H. , Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG, 1985; ders ., Grundrechtsschutz der Medienpolizei? Zur Grundrechtsfähigkeit der Landesmedienanstalten, NJW 1995, 557; Bleckmann, A./Helm, F., Die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, DVBl. 1992, 9; Cremer, H., Der Osho-Beschluss des BVerfG – BVerfGE 105, 279; C., Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen bei wirtschaftlicher Betätigung im Inland, EuGRZ 1981, 161; Dreier, R., Zur Grundrechtssubjektivität juristischer Personen des öffentlichen Rechts, FS Scupin, 1973, S. 81; Guckelberger, A., Zum Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen, AöR (2004) 129, 618; Hasenstab, S., ,,Kein Grundrechtsschutz für angloamerikanische Großkanzleien und deren Mandanten?, IWRZ 2019, 3; Hummel, L., Zur Grundrechtsberechtigung grundrechtsdienender juristischer Personen des öffentlichen Rechts, DVBl. 2008, 1215; Isensee, J., Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: ders./Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V, 2. Auflage 2000, § 118; Krausnick, D., Grundfälle zu Art. 19 III GG, JuS 2008, 869; Mertens, H.-J., Die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen und das Gesellschaftsrecht, JuS 1989, 857; Pieroth, B., Die Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, NWVBl. 1992, 85; Rüfner, W., Der personale Grundzug der Grundrechte und der Grundrechtsschutz juristischer Personen, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. II, S. 55; Schoch, F., Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen, Jura 2001, 201; Windthorst, K., Zur Grundrechtsfähigkeit der Deutschen Telekom AG, VerwArch 2004, 377; Zimmermann, N., Der grundrechtliche Schutzanspruch juristischer Personen des öffentlichen Rechts, 1993.
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