Teil 2:Straftaten gegen das Leben
I.Totschlag, § 212
1.Geschütztes Rechtsgut
3Die §§ 211 ff. schützen das Rechtsgut Leben. Gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Grundgesetz gewährleistet damit nicht nur ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, sondern zugleich auch einen Anspruch auf staatlichen Schutz gegen Eingriffe Dritter, die sich gegen das menschliche Leben anderer richten 5. Dabei gilt der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes 6. Das menschliche Leben ist ohne Rücksicht auf die Lebenserwartung, das Alter oder die familiäre bzw. soziale Situation der Person geschützt. Es ist folglich keinen Relativierungen zugänglich. Gegen staatliche Eingriffe wird das Recht eines Menschen auf Leben ferner von Art. 2 Abs. 1 EMRK gewährleistet 7.
4
Hinweis
Der absolute Schutz des menschlichen Lebens ist bereits aus dem Allgemeinen Teil bekannt. So gilt etwa der Grundsatz, dass beim rechtfertigenden Notstand gem. § 34 das Rechtsgut Leben einer Abwägung nicht zugänglich ist und daher die Tötung eines Dritten zur Gefahrabwendung nicht gerechtfertigt sein kann. 8Daneben zeigt sich der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes auch bei der rechtfertigenden Einwilligung. Eine rechtfertigende Einwilligung in die Tötung ist nicht möglich, da das Leben kein disponibles Rechtsgut ist. 9Dies kann unmittelbar aus der Vorschrift des § 216 abgeleitet werden, wonach selbst bei einem ausdrücklichen und ernstlichen Tötungsverlangen des Opfers derjenige, der zur Tötung bestimmt worden ist, strafbar bleibt.
2.Systematik der Tötungsdelikte
5Für das systematische Verständnis der Tötungsdelikte stellt der in § 212 Abs. 1 geregelte vorsätzliche Totschlag den Ausgangspunkt dar:
Schaubild:
6 a) Strafschärfungsvorschrift des § 211.§ 211 (Mord) stellt nach h. M. einen Qualifikationstatbestanddar, während die Rechtsprechung bislang noch davon ausgeht, dass es sich bei § 211 um ein eigenständiges Delikt handelt 10. Im Falle der Verwirklichung von Mordmerkmalen tritt an die Stelle der zeitigen Freiheitsstrafe bei § 212 (fünf bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe) zwingend die lebenslange Freiheitsstrafe.
7 b) Privilegierungstatbestand des § 216.Dieser wirkt hingegen als Strafmilderungsgrundbei einer Tötung auf Verlangen. Gegenüber dem Grundtatbestand wird der Strafrahmen in diesen Fällen auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren abgesenkt. Was das Verhältnis der Vorschriften zueinander anbelangt, so ist zu beachten, dass im Falle der Verwirklichung der Privilegierung des § 216 die Anwendung des § 211 – auch bei Vorliegen von Mordmerkmalen – gesperrt ist 11. Ein vorsätzlicher Totschlag kann demnach nur dann als Mord qualifiziert werden, wenn ein Fall des § 212 vorliegt, nicht aber ein Fall des § 216 anzunehmen ist.
8 c) Strafzumessungsregeln, § 212 Abs. 2 und § 213.Neben diesen beiden tatbestandlichen Abwandlungen finden sich noch zwei Strafzumessungsregeln, die die Rechtsfolgenseite (nur) des § 212 modifizieren. Strafschärfend wirkt der in § 212 Abs. 2 normierte unbenannte besonders schwere Fall des Totschlags, bei dem zwingend auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen ist. Beim minder schweren Fall des Totschlags gem. § 213 wird hingegen der Strafrahmen auf ein Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe abgesenkt.
9 d) Fahrlässige Tötung, § 222.Vom vorsätzlichen Totschlag mit seinen tatbestandlichen Abwandlungen und seinen Strafzumessungsregeln ist die fahrlässige Tötung zu unterscheiden. Schwierigkeiten bereitet hier vor allem die Abgrenzung von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit 12.
10 e) Schwangerschaftsabbruch, § 218 und Aussetzung, § 221.Neben den Tötungsdelikten im engeren Sinne beinhaltet der 16. Abschnitt des Besonderen Teils mit den §§ 218, 221 noch zwei eigenständige Tatbestände. Diese Vorschriften schärfen oder mildern nicht die Strafe des § 212, sondern begründen eine selbständige Strafbarkeit für Fälle des Schwangerschaftsabbruchs bzw. der Aussetzung.
11
Prüfungsschema
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Anderer Mensch
bb) Töten
b) Subjektiver Tatbestand
2. Rechtswidrigkeit
3. Schuld
4. Strafzumessungsregeln
a) Strafmilderung: Minder schwerer Fall, § 213
b) Strafschärfung: Besonders schwerer Fall, § 212 Abs. 2
12Den Tatbestand des § 212 verwirklicht, wer einen Menschen tötet. Die Formulierung „ohne Mörder zu sein“ gewinnt keine eigenständige Bedeutung. Sie weist lediglich darauf hin, dass bei Vorliegen von Mordmerkmalen nicht (nur) § 212, sondern (auch) § 211 zur Anwendung gelangt.
13 a) Anderer Mensch.Tatobjekt der §§ 211 ff. ist nach ganz h. M. stets ein anderer Mensch, auch wenn dies der Wortlaut nicht explizit zum Ausdruck bringt 13. Aus diesem Grund ist die (versuchte) Selbsttötung nicht strafbar 14. Auch kann die Teilnahme an einer (vollendeten oder versuchten) Selbsttötung mangels vorsätzlicher rechtswidriger Haupttat i. S. d. §§ 26, 27 strafrechtlich nicht erfasst werden 15.
14Erforderlich ist ferner, dass sich die Tat überhaupt gegen menschliches Lebenrichtet.
Schaubild:
15 aa) Beginn des Lebens. Geschützt wird von § 212 nur das geborene menschliche Leben. Zuvor wird der strafrechtliche Schutz durch den Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 gewährt. Maßgeblich ist bei gewöhnlichem Geburtsverlauf das Einsetzen der Eröffnungswehen 16. Bei operativer Entbindung soll dagegen auf die Vornahme des die Eröffnungsperiode ersetzenden ärztlichen Eingriffs abzustellen sein 17. Auf den vollständigen Austritt des Kindes aus dem Mutterleib und damit die „Vollendung“ der Geburt kommt es – anders als bei § 1 BGB – nicht an 18.
Gesetzestext
§ 1 BGB – Beginn der Rechtsfähigkeit: Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.
Nicht erfasst werden etwa Eingriffe im Wege der Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin, wie z. B. Experimente an Embryonen oder die künstliche Veränderung von Keimbahnzellen.
16 bb) Ende des Lebens.Früher hat man auf den sog. klinischen Tod abgestellt (Stillstand von Atmung und Kreislauf). Dieses Kriterium ist jedoch im Laufe der Zeit auf Grund des medizinischen Fortschritts fraglich geworden. Denn Atmung und Kreislauf können künstlich in Gang gehalten werden 19. Nach überwiegender Ansicht soll der Organtod des Gehirns, d. h. das Erlöschen aller Gehirnfunktionen entscheidend sein, weil dieser Vorgang stets irreversibel ist (vgl. auch § 3 Abs. 2 Nr. 2 Transplantationsgesetz) 20. Werden nach dem Organtod medizinische Geräte abgeschaltet, so verwirklicht der Arzt nicht mehr den Tatbestand des § 212.
Читать дальше