156 aa)Eine konkrete Gefahrist gegeben, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Situation für das geschützte Rechtsgut führt. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung muss – was auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person so stark beeinträchtigt werden, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob das Rechtsgut verletzt wird oder nicht 315. Tritt eine konkrete Gefahr nicht ein, weil das Opfer anderweitig gerettet wird, dann bleibt der Täter nach Absatz 1 straffrei, weil es sich bei der Aussetzung um ein Vergehen handelt und die Strafbarkeit des Versuchs nicht ausdrücklich angeordnet ist.
Hinweis
Der Begriff der konkreten Gefahr wird in vielen zentralen Tatbeständen – §§ 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 225 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2, 239 Abs. 3 Nr. 2, 250 Abs. 1 Nr. 1c, Abs. 2 Nr. 3b, 306a Abs. 2, 306b Abs. 2 Nr. 1, 315 Abs. 1, 315a Abs. 1, 315b Abs. 1, 315c Abs. 1 – verwendet. Die hier genannte Definition gilt jeweils entsprechend.
157 bb)Problematisch ist, was unter dem Begriff der schweren Gesundheitsschädigungzu verstehen ist. Unbestritten ist zunächst, dass höhere Anforderungen als bei einer (einfachen) Gesundheitsschädigung i. S. d. § 223 Abs. 1 Var. 2 zu stellen sind. In jedem Falle kann man darunter solche gesundheitlichen Folgen subsumieren, die entweder in § 226 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ausdrücklich genannt sind oder jedenfalls mit den dort genannten Gesundheitsschäden einen vergleichbaren Schweregehalt aufweisen. Aber auch die konkrete Gefahr einer Gesundheitsschädigung, die unterhalb der Schwelle des § 226liegt, wird richtigerweise erfasst. Eine schwere Gesundheitsschädigung liegt daher auch dann vor, wenn das Opfer in eine ernste, langwierige Krankheit verfällt, eine dauernde oder langwierige schwerwiegende Beeinträchtigung der Gesundheit 316, der Arbeitskraft oder anderer körperlicher Fähigkeiten oder eine nachhaltige Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Stabilität 317gegeben ist. Dabei ist auch die individuelle gesundheitliche Konstitution des Opfers zu berücksichtigen 318. Dasselbe gilt für die persönlichen Verhältnisse des Opfers, die – wie etwa der Beruf – für das Vorliegen einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Arbeitskraft maßgeblich sein können 319.
158 cc)Erforderlich ist ferner ein spezifischer Gefahrzusammenhangzwischen Tathandlung und Gefahrerfolg, d. h. der Eintritt der konkreten Gefahr muss gerade auf der der Tathandlung eigentümlichen Gefährlichkeit beruhen.
Bsp.: 320T nimmt dem betrunkenen O in einer eiskalten Winternacht seine Daunenjacke weg und setzt diesen am Straßenrand ab. Nur durch Zufall wird O von einem Passanten aufgefunden und vor dem Kältetod gerettet. – T macht sich nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 strafbar, da die Gefahr des Kältetodes die typische Gefahr der Tathandlung ist. Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn die Todesgefahr darauf beruht, dass O von Räuber R überfallen wird und durch Messerstiche schwer verletzt wird. Denn hier hat sich nicht die typische Gefahr der Aussetzung, sondern die allgemeine Gefahr, Opfer eines Raubüberfalls zu werden, verwirklicht.
159 dd)Wichtig ist im Übrigen, dass man zwischen der hilflosen Lage einerseits und der konkreten Gefahr andererseits unterscheidet. Dies hat vor allem Bedeutung für Fälle der Nr. 2. Besteht auf Grund der hilflosen Lage, in der der Täter das Opfer im Stich lässt, bereits eine konkrete Gefahr, so kann Nr. 2 nur noch dann erfüllt sein, wenn entweder diese konkrete Gefahr gesteigert wird oder durch das Im-Stich-Lassen eine andere konkrete Gefahr eintritt 321. Denn Voraussetzung für die Anwendung des Tatbestandes ist, dass sich die konkrete Gefahr gerade aus der hilflosen Lage entwickelt.
Bsp.:Der kranke O befindet sich in der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung. Krankenschwester T lässt ihn im Stich, wodurch sich der Zustand deutlich verschlechtert und er in die Gefahr des Todes gerät. Da sich die bereits bestehende Gefahr durch das Im-Stich-Lassen weiter steigert, ist der Tatbestand des § 221 Abs. 1 Nr. 2 verwirklicht.
160 d) Subjektiver Tatbestand.Dieser setzt voraus, dass der Täter vorsätzlich, d. h. zumindest mit dolus eventualishandelt. Der Vorsatz muss sich dabei nicht nur auf die hilflose Lage und die Tathandlung („Versetzen“ oder „Im-Stich-Lassen“) beziehen, sondern sich auch auf den Eintritt des konkreten Gefahrerfolges erstrecken. Im Falle der Nr. 2 müssen auch diejenigen Tatumstände, die die Garantenstellung begründen, vom Vorsatz erfasst sein.
161 a) § 221 Abs. 2 Nr. 1.Die Qualifikationist verwirklicht, wenn der Täter die Tat gegen sein Kind oder eine Person begeht, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Der Täter muss hinsichtlich des qualifizierenden Umstandes Vorsatz besitzen.
162 b) § 221 Abs. 2 Nr. 2 und § 221 Abs. 3.Es handelt sich um erfolgsqualifizierte Delikte, für die gem. § 18 ausreichend ist, dass der Täter hinsichtlich der genannten schweren Folgen wenigstens fahrlässig handelt.
163 aa) § 221 Abs. 2 Nr. 2ist verwirklicht, wenn der Täter durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht 322. Die Strafschärfung des § 221 Abs. 2 Nr. 2 beruht darauf, dass sich die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung i. S. d. Grundtatbestandes tatsächlich realisiert. Für § 221 Abs. 3ist erforderlich, dass der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht. Im Übrigen muss jeweils sorgfältig geprüft werden, ob der spezifische Gefahrzusammenhang zwischen Grundtatbestand und schwerer Folge vorliegt 323. Erforderlich ist insoweit, dass sich im Eintritt der schweren Gesundheitsschädigung bzw. des Todes die spezifische Gefahr der Aussetzung gem. Abs. 1 realisiert.
164 bb)Umstritten ist, ob in den Fällen des §§ 221 Abs. 2 und Abs. 3 der Versuch strafbarist. Zwar ist eine Versuchsstrafbarkeit nicht ausdrücklich angeordnet, jedoch könnte diese nach allgemeinen Grundsätzen aus dem Verbrechenscharakter der Erfolgsqualifikationen (§ 23 Abs. 1) gefolgert werden. In Fällen der versuchten Erfolgsqualifikation (versuchtes oder vollendetes Grunddelikt bei Tatentschluss bzgl. der nicht eingetretenen schweren Folge) wird von der h. M. eine Versuchsstrafbarkeit bejaht. Begründet wird dies damit, dass für die Erfolgsqualifikation keine anderen Regeln gelten könnten als für Qualifikationen 324. Anders wird überwiegend beim erfolgsqualifizierten Versuch (Eintritt der schweren Folge bei versuchten Grunddelikt) entschieden. Da das versuchte Grunddelikt nicht strafbar ist, soll auch der Eintritt der schweren Folge nichts an der Straffreiheit ändern. Ferner lässt sich damit argumentieren, dass ansonsten die schwere Folge nicht nur – wie es § 18 zum Ausdruck bringt – zu einer schärferen Strafe führt, sondern vielmehr auch strafbegründend wirken würde 325.
165§ 221 Abs. 1 (Abs. 3) tritt im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter vorsätzlichen Tötungsdelikten zurück. Tateinheit besteht aber zwischen versuchten Tötungsdelikten und vollendeter Aussetzung sowie mit §§ 223, 224 326.
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