»Ach, an irgendwas stirbt jeder«, antwortete Nieksteit leichthin. »Viele sterben an Krebs, einige durch Verkehrsunfälle, manche durch einen Herzinfarkt, wenige dürfen an simpler Altersschwäche sterben, und einige werden aus wie auch immer gearteten Gründen ermordet. Womit wir wieder beim Thema sind. Gibt’s denn schon ’ne Spur?«
»Ach, du weißt doch, wie das ist.« Christine wedelte mit der Hand den hereinziehenden Qualm fort. Hoffentlich fing der Brandmelder nicht jeden Moment zu piepen an. »Steht ja in den seltensten Fällen jemand in den Startlöchern und ruft ›Hallo, ich war’s‹. Außerdem ist es erst ein paar Stunden her, dass die Leiche gefunden wurde.«
»Du schaffst das schon.« Nieksteit schnippste die Kippe aus dem Fenster, ging zum Tisch und drückte ein paarmal auf die Taste eines Raumdufts, der sogleich ein künstliches Waldaroma in der Küche versprühte. »Lass dich bloß nicht von Oda verunsichern. Die ist im Prinzip ein Pfundskerl. Sie ist es nur nicht gewohnt, neben sich noch eine Frau in der Abteilung zu haben.« Er verdrehte die Augen und zwinkerte ihr zu. »Und was für eine …«
»Du Spinner!« Lächelnd gab Christine Nieksteit eine kleine Kopfnuss und ging zurück in ihr Büro.
»Waren Sie so lange auf dem Klo?« Oda Wagner saß bereits wieder an ihrem Schreibtisch. Ihr spitzer Kommentar erstickte Christines gerade noch zuversichtliche Haltung der Kollegin gegenüber im Keim. »Sie werden erwartet.«
»Von wem?« Christine sah Oda Wagner fragend an.
»Von der Lokalpresse, meine Liebe«, antwortete die so falsch, dass Christine unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Dann jedoch straffte sie den Rücken. Das war purer Neid, vermutete sie. Diese Oda konnte es einfach nicht verknusen, dass Siebelt ihr den Fall übertragen hatte. »Ach, schon lange?«, fragte Christine.
»Der Beamte an der Pforte sagt, seit zwanzig Minuten«, gab Oda Wagner zurück. Ihre Kollegin übertrieb gerne, das hatte Christine in den letzten Tagen mitbekommen.
»Sie sind übrigens auf dem Weg zum Klo an ihm vorbeigerannt. Und wo der Chef nicht da ist, Ihnen aber die Leitung der Ermittlungen übertragen hat, will ich mich natürlich nicht vordrängeln.« Oda Wagner beugte sich über den Schreibtisch, die Arme auf der Tischplatte verschränkt, sodass ihr voluminöser Busen darauf auflag.
»Ist der Journalist jetzt im Besprechungszimmer?«, fragte Christine.
Oda Wagner nickte. »Ich kann natürlich mitkommen. Der Typ ist neu. Der war hier noch nie zu einem Pressetermin. Kommt wahrscheinlich auch aus Hannover. So, wie der auftritt …«
»Lassen Sie mal, ich schaff das schon allein.« Christine lächelte genauso falsch wie Oda Wagner. Dieser Fall war ihre Chance, sich in Wilhelmshaven zu beweisen, und die würde sie sich nicht verderben lassen.
Im Besprechungszimmer roch es nach Kaffee. Irgendwer – Christine vermutete, es war Nieksteit – hatte eine Thermoskanne, Tassen, Zucker, Milch und Kekse auf den furnierten Eichentisch gestellt, der, wie das restliche Mobiliar des Raumes, aus den fünfziger Jahren zu stammen schien. Bekanntlich war das Geld bei den Behörden immer knapp; an der Einrichtung wurde am ehesten gespart. Wir können froh sein, dass wir überhaupt schon Computer haben, statt noch auf klapprigen Schreibmaschinen rumzuhacken, dachte Christine. Der Mann, der am runden Tisch auf einem Block herumkritzelte, war der, den Christine vorhin flüchtig unten im Foyer gesehen hatte. Sie ersetzte das falsche durch ein echtes Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Kriminaloberkommissarin Christine Cordes, ich leite die Ermittlungen in diesem Fall«, begrüßte sie ihn. »Guten Tag, Herr …«
»Töpfer. Jürgen Töpfer.« Der Mann stand auf. »Vom Wilhelmshavener Kurier. Aber machen Sie jetzt bloß keinen Witz über meine Urahnen. Die kenne ich schon alle. Also, die Witze, nicht die Ahnen.«
Christine schmunzelte. »Nehmen Sie doch gern wieder Platz. Sie sind so wie ich neu in Wilhelmshaven, sagte meine Kollegin.«
»Ach, hat sie das sofort erkannt?« Töpfer klang amüsiert.
»Sie hat anscheinend einen Blick für Auswärtige.« Christine setzte sich ebenfalls. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Es geht um den Mord an Dr. Beenke, wie Sie sich denken können. Wir hätten gern Informationen. Schließlich interessiert unsere Leser, was ihm zugestoßen ist.«
»Tja, außer dass er tot aufgefunden wurde, kann ich Ihnen im Moment leider nicht viel sagen. Wir müssen das Ergebnis der Obduktion abwarten. Dann wissen wir mehr. Das verstehen Sie sicher.« Christine goss Kaffee in die Tassen und schob dem Journalisten Milch und Zucker rüber. Ihr Magen knurrte. Rasch griff sie nach einem der Kekse und biss hinein.
»Sie tappen also noch im Dunkeln. Keine erste heiße Spur?«, fragte Töpfer.
»Wie es in solchen Fällen eben so ist. Das müssten Sie eigentlich wissen.« Christine sah ihm direkt in die Augen und verlieh ihrer Stimme einen etwas tieferen Tonfall. »Oder waren Sie bislang eher für Klatschspalten und die Berichterstattung über das Privatleben der Politiker zuständig?«
»Hehe, junge Frau. Nicht so biestig.« Lächelnd trank Jürgen Töpfer einen Schluck Kaffee. »Natürlich kenne ich mich in der Berichterstattung über Mordfälle aus. Genau wie in der für die Klatschspalten. Das zeichnet uns Journalisten doch aus, wie man landläufig weiß. Mit dem Privatleben unserer Politiker hab ich mich zugegebenermaßen weniger beschäftigt. Aber das mag noch kommen. In einer Stadt wie Wilhelmshaven ist man an diesem Thema garantiert viel näher dran.« Er grinste breit.
Christine lächelte ebenfalls. »Sagen Sie, warum drehen wir den Spieß nicht einfach um, und Sie verraten mir, was Sie über Dr. Beenke wissen? Als Lokalredakteur werden Sie mir garantiert eine Menge über den öffentlichen Menschen John Beenke sagen können. Vielleicht sogar mehr als das, was in der Zeitung stand.« Christine nahm ein zweites Vanillekipferl. Das Magenknurren beruhigte sich erfreulicherweise allmählich.
»Lokalredakteur. Warum klingt es aus Ihrem Mund so abwertend?«
»Entschuldigung, das war absolut nicht so gemeint«, rechtfertigte Christine sich.
»Schon gut. Bedauerlicherweise kann ich Ihnen da allerdings nicht weiterhelfen. So gerne ich auch würde.« Töpfer zuckte mit den Schultern. »Ich bin nämlich erst seit Kurzem in der Stadt. Da fehlt mir noch das Insiderwissen über die hiesigen Seilschaften. Aber natürlich versuche ich, darüber mehr zu erfahren. Ich höre mich gern für Sie um. Und werde die Kollegen der Redaktion ausquetschen wie Zitronen. Im Archiv forsche ich ebenfalls nach. Und ich verspreche, Sie anzurufen, sobald ich etwas erfahre, das für den Fall relevant ist. Wir Wilhelmshavener Neulinge müssen doch zusammenhalten! Und es den einheimischen Urgesteinen bei der Zeitung und der Polizei zeigen! Kann ich davon ausgehen, dass Sie mich im Gegenzug ebenfalls informieren?«
Sein aufgesetzt naiver Hundeblick amüsierte Christine. »Ich fürchte, davon können Sie leider nicht ausgehen. Aus …«
»… ermittlungstechnischen Gründen. Ich weiß«, ergänzte Töpfer seufzend. »Aber einen Versuch war die Frage wert. Oder?«
»Selbstverständlich.« Christine lächelte und stand auf. »Je eher daran, desto eher davon, sagt meine Oma immer.«
Auch Töpfer schnappte seine Unterlagen und erhob sich. In der Tür stoppte Christine. Töpfer, der damit nicht gerechnet hatte, wäre beinahe mit ihr zusammengestoßen. »Aber wissen Sie was«, flüsterte sie ihm vergnügt zu, »wenn ich den Täter habe, rufe ich Sie sofort an.«
***
»Was hatten Sie denn mit dem zu flüstern?«, fragte Oda skeptisch, als sie aus der Küche auf den Flur trat und Christine Cordes mit dem Journalisten tuscheln sah.
»Ach, nichts Wichtiges. Ich habe nur versprochen, ihn anzurufen, sobald ich den Täter habe«, antwortete die Neue und lächelte.
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