Über den Autor
Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Mehr über den Autor: www.thomasfranke.net
Prolog
Nacht
Am Morgen
Vandalismus und ein Todesfall
Geschwister
Vergangenheit
Der Stich
Zeugenvernehmung
Theory of Mind
Recherche
Verhör im Skatepark
Überraschungsbesuch
Der Kosmonautensprung
Der Verstecker
Recht haben genügt nicht
Operation Gerechtigkeit
Friedbert und der feine Ronny
Arztbesuch
Gewollt?
Viele Fragen und heißer Kaffee
Herr Schmidt-Wachtel und das verlorene Handy
„One Billion“ und die Heimaufsicht
Die WG
Verwirrung
Gestalten im Nebel
Klar wie Kloßbrühe
Geheimnisse
Eine Hypothese
Fleischermeister
Soli Deo gloria
Gestorben, bevor der Tod kam
Lageanalyse und Keksgeschosse
Überraschung aus Hohenwutzen
Match Point Birdie
Kommando Messe
Verhörraum mit Haltegriffen
Auszug aus Aktion Licht , dem zweiten Band der Soko mit Handicap -Dilogie
Danksagung und Nachwort
Obwohl die Zweige an den Bäumen wieder grünten, trugen die Nächte noch den frostigen Atem des Winters in sich. Der Mann ohne Namen schlang den Mantel fester um sich und stemmte sich gegen den Wind, der ihm entgegenblies.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Pärchen aus dem Nobelrestaurant trat. Der Mann war groß und breitschultrig, die Frau schlank und viel zu dünn angezogen.
Der Namenlose bemerkte, dass der Mann ihn beobachtete. Das war nicht ungewöhnlich. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Die Leute versuchten einzuschätzen, ob er eine Gefahr darstellte. Bewusst ließ er die Schultern hängen und schlurfte weiter. Er war nur ein Obdachloser, harmlos und unbedeutend, niemand, den man eines zweiten Blickes würdigte. Das war sein Schutz und sein Schicksal.
Er spürte den Blick des Mannes in seinem Nacken, dann bog er ab. Nach zwei Dutzend Schritten erreichte er das vergitterte Eisentor, das die Einfahrt zu einem aufwendig restaurierten Hinterhof versperrte. Er blickte sich vorsichtig um. Niemand war zu sehen. Rasch überkletterte er das Tor und verschwand im Dunkel des unbeleuchteten Durchgangs. Obwohl er sich bemühte, leise zu sein, hallten die Schritte seiner abgewetzten Ledersohlen unangenehm laut von den gemauerten Wänden wider.
Im Hinterhof angelangt, kletterte er auf eine Altpapiertonne und schwang sich über die schmale Mauer in den nächsten Hof. Geduckt schlich er unter einem Fenster im Parterre entlang und kauerte sich auf das Gitter eines Lichtschachts.
Dort wartete er. Durch eine Lüftungsklappe drangen Geräusche zu ihm heraus, ein Klirren und Klappern und müde Stimmen. Wie von selbst glitten seine Finger unter den alten Wollmantel und ertasteten die dickbauchige Flasche. Und noch ehe es ihm bewusst war, hatte er sie an die Lippen gesetzt. Er trank schnell und in großen Schlucken. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, und für einen kurzen Moment fühlte er sich behaglich warm. Dann war die Flasche leer. Er bemühte sich, sie leise abzustellen. Aber seine Hände zitterten zu stark, es klirrte, als die Flasche gegen einen stählernen Container stieß. Bevor er reagieren konnte, fiel sie um und rollte über das Pflaster gegen eine Mülltonne. Dort lag sie still und dumpf glänzend im Licht des Mondes.
Wütend starrte der Mann ohne Namen auf seine Hände. Die Finger zitterten leicht, und die blassblau verfärbte Haut war rissig. Irgendwann musste er etwas anderes mit diesen Händen getan haben, als Mülleimer zu durchwühlen und gleichgültige Passanten anzubetteln. Vielleicht waren diese steifen Finger geschickt gewesen, und er war einem Handwerk nachgegangen? Vielleicht hatte er auch, einen teuren Kugelschreiber haltend, das Schicksal vieler Menschen mitbestimmt? Er wusste es nicht. Er wusste nur, wie man überlebt.
Schritte waren zu hören, und er duckte sich tiefer in sein Versteck. Sie waren zu zweit, schwer atmend unter der Last, die sie trugen. Ein Deckel wurde geöffnet und prallte mit einem dumpfen Laut gegen eine halb gefüllte Plastiktonne. „Na lecker!“, knurrte einer der beiden.
Der andere kicherte. „Warte ab, bis es Sommer ist, dann tummeln sich da drin so viele Maden, dass du glaubst, die Tonne robbt gleich über den Hof.“
„Hör auf, Mann, mir wird schlecht.“
Der andere lachte.
Ein plätscherndes Geräusch war zu vernehmen. Dann wurde der Deckel zugeklappt.
„Endlich Feierabend.“
Die Schritte entfernten sich wieder. „Wie oft wird das Ding eigentlich geleert?“
„Zweimal die Woche.“
„Ist das nicht ein bisschen wenig?“
„Alles eine Frage des Geldes.“
Der Mann im Schatten wartete, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte. Dann kroch er aus seiner Deckung und schlich über den Hof. Er musste schnell sein. Sehr rasch nahmen die Reste den Geschmack der Tonne an – und nicht nur das … Einmal war er zu spät gewesen. Trotz des säuerlichen Geschmacks hatte er das Fleisch gegessen. Zwei Tage lang hatte er keinen Bissen Brot und keinen Schluck Wasser bei sich behalten, und anschließend war er über eine Woche lang so geschwächt gewesen, dass er sich kaum auf den Beinen hatte halten können.
Er klappte den Deckel auf. Es dampfte, das Geschnetzelte war noch warm. Er ignorierte die dunklen Verkrustungen an den Wänden und griff in die Mitte der Tonne. Hungrig stopfte er die Fleischbrocken in sich hinein. Es störte ihn nicht, dass die braune Soße seinen Ärmel beschmutzte und in seinen Bart rann. Es war warm und sättigte ihn.
„Hey!“
Er fuhr herum. Eine hohe, breitschultrige Gestalt trat in den Hof. Wo kam der Typ auf einmal her?
Der Unbekannte machte einen Schritt vorwärts – es war der Mann, der aus dem Nobelrestaurant herausgekommen war. „Was wollen Sie hier?“
Der Fremde kam näher. Er trug einen teuren Kaschmirmantel, an seinem Finger schimmerte ein goldener Ehering. „Peter, bist du das?“ Die Augen des Mannes weiteten sich.
Der Namenlose starrte ihn an. Kannte der Typ ihn wirklich? Oder verwechselte er ihn? In ihm jedenfalls regte sich keine Erinnerung. Seine Vergangenheit blieb hinter grauen Nebeln verborgen. „Hören Sie, ich kenne Sie nicht …“, setzte er an. Erst da bemerkte er den Schlagstock in der Hand seines Gegenübers. Seine Muskeln zuckten, wollten eine Abwehrhaltung einnehmen, doch es war zu spät.
Helle Lichter flammten auf, dann wurde es schwarze Nacht.
Theo schlug die Augen auf. Unwillkürlich lauschte er. Etwas hatte ihn geweckt – etwas Beunruhigendes. Ein leises Brummen lag in der Luft, doch sonst war alles still. Mit der Benommenheit des gerade Erwachten versuchte er zu begreifen, was ihn aufgeschreckt hatte. Doch die Erinnerung verblasste so rasch wie ein Traumbild in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.
Wo bin ich hier überhaupt? Theo blinzelte ein paarmal und starrte in das verschwommene Zwielicht des Raums. Ohne Brille war er aufgeschmissen. Gedämpftes orangerotes Licht zeichnete bizarre Muster an die weiße Decke. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn. Es war warm, und er hatte seine Atemmaske nicht auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Theo tastete nach seiner Brille. Zu dumm, dass sein Bewegungsradius mittlerweile auf einen knappen halben Meter eingeschränkt war. Anstelle seines Nachttisches ertastete er nur weiche Kissen. Mühsam drehte er den Kopf. Die Matratze unter ihm bewegte sich und blubberte leise. Neben ihm lag etwas, das verdächtig nach einem Plüschherz aussah.
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