Die Tür war mit dem gleichen Material verkleidet und wäre nicht zu erkennen gewesen, hätte sie nicht einen Spalt offen gestanden. Draußen sprach jemand. Hin und wieder waren Schritte zu hören. Da lief jemand auf und ab – nervös, wütend, angespannt. „… warum meldest du dich erst jetzt?!“, vernahm er undeutlich eine Stimme. Erneut Schritte. Die Stimme sprach wieder, war aber zu leise für ihn, um sie verstehen zu können.
Was soll das alles?, ging es ihm durch den Kopf. Warum bin ich hier?
Der Namenlose versuchte, seine letzten Erinnerungen hervorzukramen. Er war im Hinterhof des Restaurants gewesen. Ein Mann war plötzlich aufgetaucht: groß, breitschultrig, schütteres Haar. Er hatte ihn Peter genannt. Und dann? War da nur noch grauer Nebel …
Der Breitschultrige hatte geglaubt, ihn erkannt zu haben. Hatte ihn seine verschüttete Vergangenheit mit diesem Typen eingeholt oder war es eine Verwechslung gewesen?
Peter. Er versuchte, der Wirkung dieses Namens nachzuspüren. Doch er löste keinen Widerhall in ihm aus.
Hör auf damit!, blaffte die Stimme in seinem Inneren. Konzentrier dich auf das Wesentliche! Sein Hirn arbeitete fieberhaft, während seine Augen durch den Raum huschten und versuchten, jedes Detail wahrzunehmen. Eine Kamera war nirgends zu sehen, kein Laptop, kein Smartphone, keine Uhr. Nirgendwo war Technik zu erkennen. Die Einrichtung des Raums war alt, aber der Stil war ihm nicht unvertraut. Diese Gegenstände entstammten einer Zeit, in der er noch jung gewesen war.
Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf: ein Schlafsaal, junge Gesichter, rasierte Schädel und graue Uniformen … Unwichtig!, bellte die Stimme in ihm. Konzentrier dich! Stell die wesentlichen Fragen.
Er betrachtete die Kanüle und die Infusionsnadel. Warum bin ich wach? Sein Blick wanderte den Infusionsschlauch entlang nach oben. Der Beutel war voll. Aber keine Flüssigkeit rann durch den durchsichtigen Plastikschlauch. Die Stellschraube war nicht gelöst worden. Mit Absicht? Er blickte wieder zur leicht geöffneten Tür. Oder jemand war bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Wie auch immer – einfach abzuwarten, war die schlechteste aller Optionen.
Versuchsweise zog er an seinen Fesseln. Das alte Bettgestell klapperte. Sofort hielt er inne. Es wäre fatal, wenn seine Bewacher mitbekämen, dass er bei Bewusstsein war. Sein Blick fiel auf die Kanüle. Rohe Gewalt war nicht die einzige Möglichkeit, die Fesseln loszuwerden.
Er ignorierte die Frage, woher er wusste, was genau zu tun war, und richtete sich auf. Es bot sich ihm eine winzige Chance, und die musste er nutzen. Sein ganzer Körper schmerzte, und er stellte fest, dass man ihn katheterisiert hatte. Unbedeutend! Mühsam kämpfte er sich so weit hoch, dass er die Infusionsnadel mit den Zähnen zu packen bekam. Es gab einen kleinen stechenden Schmerz, als er sie herauszog. Er spürte ihn kaum. Sein Körper hatte schon weit Schlimmeres erlebt.
Blutstropfen rannen seinen Arm hinab und perlten auf die gummierte Matratze. Er beugte sich tief über seinen gefesselten Arm und schielte über seine Nasenspitze hinweg auf den Kopf des Kabelbinders. Es brauchte seine ganze Konzentration und ein Dutzend vergeblicher Versuche, ehe es ihm endlich gelang, die Nadelspitze unter die Kunststoffzunge zu drücken, mit der die Zähne des Zugbandes fixiert wurden. Vorsichtig drückte er die Zunge hoch und übte dann mit dem Handgelenk Druck aus. Zahn um Zahn löste sich der Kabelbinder, schließlich fiel er mit einem leisen Klacken zu Boden.
Der Namenlose unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen. Er schüttelte seine Hand, um die stockende Durchblutung wieder in Gang zu bringen, und griff nach der Nadel, sobald er wieder genügend Gefühl in den Fingerspitzen hatte. Nach wenigen Sekunden hatte er sich auch vom zweiten Kabelbinder befreit.
Er schlug die Decke beiseite. Man hatte ihn tatsächlich vollkommen entkleidet.
Während er den Katheter zog, lauschte er. Ein leises Murmeln war zu hören. Der Unbekannte hatte sein ruheloses Auf- und-ab-Gehen vor der Tür wieder aufgenommen, und von Zeit zu Zeit waren einzelne Sätze zu verstehen. „… bin schon seit zwölf Stunden im Einsatz. Ich brauch ’ne Pause.“
Unendlich behutsam glitt der Namenlose aus dem Bett. Das leise Quietschen der Bettfedern ließ ihn erschaudern. Alle seine Muskeln spannten sich an, da er erwartete, gleich seinen Entführer durch die Tür stürmen zu sehen.
Doch alles blieb ruhig. Er schlich näher an die Tür heran.
„Was? Natürlich habe ich das!“, empörte sich der Mann.
Die Stimme kam ihm nicht bekannt vor.
Leise schlich er vorwärts und spähte durch den Türspalt in den Vorraum. Der Typ war untersetzt und ziemlich korpulent. Sein fettiges dunkles Haar hatte er zu einem Zopf gebunden.
„Ja, es ist alles normal … Vor zehn Minuten. Ich war nur kurz pinkeln und dann hast du angerufen … Selbstverständlich sehe ich sofort nach.“ Der Typ salutierte spöttisch und beendete das Gespräch. „Was für ein Scheißjob“, schnaufte er und stopfte das Handy in seine Hosentasche. Dann wandte er sich um und ging direkt auf die Tür zu.
Der Namenlose reagierte, ohne nachzudenken. Als der Typ die Tür aufstieß, sprang er vor und verpasste dem Mann einen gezielten Schlag auf das Karotisdreieck unterhalb des Kiefers. Der Getroffene sackte lautlos zusammen.
Er zog dem ohnmächtig Daliegenden Hose, Hemd und Schuhe aus, dann wuchtete er ihn auf das Krankenhausbett und fesselte ihn mit den Kabelbindern. Der Mann war ganz offensichtlich nur ein Handlanger; es hätte wenig Zweck, ihn zu befragen.
Zuerst musste er von hier verschwinden, alles Weitere würde sich zeigen. Er schlüpfte in die Kleidung des Dicken. Die Hose war zu kurz und das Hemd wirkte an seinem drahtigen Körper wie ein Kartoffelsack. In der Hosentasche fand er ein Smartphone und einen Schlüsselbund mit einem programmierbaren Schlüssel. Ein sicheres System, da der Besitzer des Masterkeys per App steuern konnte, welche Schlösser mit dem Schlüssel geöffnet werden konnten. Außerdem konnte er den Schlüssel jederzeit sperren, sollte er verloren gehen. Das bedeutete, dass der Namenlose nur ein enges Zeitfenster hatte. Sollte der Strippenzieher im Hintergrund Verdacht schöpfen, würde ihm der Schlüssel nichts mehr nützen.
Er erwog, das Handy hierzulassen, entschied dann aber, dass die Informationen, die er möglicherweise dadurch gewinnen konnte, wichtiger waren als die Gefahr der Überwachung. In der schallisolierten Zelle schien es keine Kamera zu geben. Ob das auch für den Vorraum galt, war zweifelhaft.
Der Namenlose polsterte das Hemd mithilfe der Decke aus, um zumindest eine ähnliche Statur wie der Dicke zu haben, und ging mit gesenktem Kopf durch den zweiten Raum direkt auf die dicke Stahltür zu, die ihm den Weg nach draußen versperrte. Seine Verkleidung war mehr als improvisiert, aber vielleicht hatte er ja Glück.
Das Handy in seiner Hosentasche klingelte im selben Moment, in dem er den Schlüssel ins Schloss steckte. Hastig schloss er auf. Mit einem leisen Klacken glitt der Riegel zurück. Die Tür ließ sich öffnen, stieß jedoch auf festen Widerstand. Er lugte durch den schmalen Spalt von ungefähr fünf Zentimetern.
Spätestens jetzt musste seinem unbekannten Beobachter klar geworden sein, dass er nicht der Dicke war. Das Klingeln des Handys verstummte und setzte wenig später erneut ein. Er ignorierte es. Schemenhaft erkannte er eine Bretterwand. Hatte man den Ausgang versperrt? Das erschien ihm reichlich unlogisch. Eine schwer gesicherte Stahltür, die man nicht verwenden konnte, war ziemlich sinnfrei. Es musste eine Möglichkeit geben, das Hindernis von hier drinnen aus zu beseitigen.
Sein Blick fiel auf einen altmodischen Doppelschalter neben der Tür. Doch ehe er danach greifen konnte, ging das Licht aus, und das leise Summen der Belüftungsanlage verstummte. Er betätigte dennoch die Schalter. Erwartungsgemäß geschah nichts. Dem Klingeln des Handys in seiner Hosentasche schien etwas Spöttisches anzuhaften. Nach kurzem Zögern fischte er das Gerät heraus und nahm das Gespräch an. „Ja?“
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