Herbert W. Franke - PARADIES 3000

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Wie in seinen vorhergehenden Erzählungen und Romanen beschäftigt sich Herbert W. Franke auch in dieser Sammlung mit einem Themenbereich, den er für den ureigenen der Science-Fiction ansieht: Konfliktsituationen zwischen der Gesellschaft und einer expandierenden Wissenschaft, Rückwirkungen technischer Eingriffe – nicht zu berechnen, aber vielleicht doch zu erahnen. Der Mensch inmitten einer künstlichen Umwelt, konfrontiert mit ungewöhnlichen Gefahren, aber auch mit überraschenden Chancen, Extrapolationen von Entwicklungslinien, weit über den heutigen Stand hinaus – Situationen solcher Art konkretisieren sich in Handlungen und Schauplätzen: Die Wohnmaschinen der modernen Stadt, Laboratorien und Forschungsstätten, aber auch Raumstationen und Planeten, weitab von den Geschehnissen des Alltags. Extremsituationen, die Grenzen der Belastbarkeit – das alles in einer nüchternen Sprache geschrieben, gelegentlich sogar in einer pseudodokumentarischen Diktion, in Form von Forschungsberichten, von fingierten Tonbandprotokollen.
Titelbild und Innenillustration stammen von Thomas Franke.

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Herbert W. Franke

PARADIES 3000

Science-Fiction-Erzählungen

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 14

hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn

AndroSF 78

Herbert W. Franke

PARADIES 3000

Science-Fiction-Erzählungen

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 14

hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn

AndroSF 78

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Autor Herbert W. Franke wird vertreten durch AVA International GmbH, München, www.ava-international.de.

© der Originalausgabe: 1981 by Herbert W. Franke

© dieser Ausgabe: Oktober 2020 by

p. machinery Michael Haitel

Titelbild: Thomas Franke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p. machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www. p machinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 214 0

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 215 7

ISBN des E-Books: 978 3 95765 877 7

Paradies 3000

Am zweihundertsiebenundzwanzigsten Tag des Jahres 3000 löste sich aus bisher ungeklärten Gründen eine Gondel der städtischen Schwebebahn aus der magnetischen Verankerung und stürzte hundert Meter tief ab. Glücklicherweise waren die Kabinen unbesetzt, sodass keine Toten zu beklagen sind. Lediglich zwei Passanten wurden leicht verletzt.

Ich habe meine Abendration nicht aufgegessen. Ich war beim Fernsehen unaufmerksam. Und was noch schlimmer ist: Ich habe keine Meldung gemacht. Die Essensreste warf ich in den Müllschlucker. Bei der Diskussion machte ich nur ein paar allgemeine Bemerkungen. Niemand ist das aufgefallen.

Das war ein böser Tag. Alles kam so plötzlich. Ich muss immer daran denken. »Frag nicht so viel«, habe ich selbst oft genug zu Sigi gesagt. Und nun möchte ich selbst Fragen stellen. Aber lieber nicht – die Psychos können so hartnäckig sein.

Noch zu Mittag, nach den Auflockerungsübungen, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass sich die Welt so rasch verändern kann. Die Stadt sah aus wie immer – saubere Straßen, grünes Kunststoffgras, fröhliche Nobüs auf den Rollbahnen, und darüber, kaum durch Dunst getrübt, der gelbe Schein unserer Regionalsonne. Gedämpfte Musik aus den Lautsprechern, das Summen der Luftreiniger.

Ich stand mit Sigi auf dem Platz vor der Datenbank, und wir schauten den wechselnden Bildern des letzten Jagdspiels zu. Sigi ist nett. Seit einigen Zehnteljahren bin ich mit ihm liiert. Wir standen eng beisammen. Ich hielt ihn bei der Hand.

Und dann geschah es. Etwas rauschte, und keine zwanzig Meter von uns entfernt schlug die Gondel auf. Sie zerschellte, Trümmer flogen auseinander, einige ganz nahe an uns vorbei.

Glücklicherweise war der Platz ziemlich leer. Nur ein Nobü war noch näher als wir an der Aufschlagstelle. Als es vorbei war, sah ich ihn stehen – er stand seltsam gekrümmt, seine Augen waren weit offen, er blickte erstaunt … Er presste eine Hand an die Hüfte, und dann sah ich etwas Rotes am Stoff seines Hemds. Es musste Blut sein.

Innerhalb einer Minute war der Platz voller Nobüs. Alle drängten sich um den Verletzten herum, starrten ihn an, entgeistert, schockiert. Der entsetzliche rote Fleck wurde langsam größer. Der Verletzte versuchte, sich davonzustehlen, aber die Menge bildete eine unüberwindliche Mauer.

Das Zischen eines Hovercrafts. Die Leute wichen zurück. Der blutende Mann stand in der Mitte. Das Boot landete, Polies sprangen heraus. Sie errichteten einen Paravent, der die Sicht versperrte. Dahinter geschäftiges Treiben. Dann wurden die Schirme zusammengeklappt. Man sah nur noch einige Polies, die die Straße mit einem Desinfektionsmittel besprühten.

Natürlich brachten sie ihn fort. Das Schwebeboot erhob sich in die Luft. Die Menge zerstreute sich. Nur die Trümmer der Gondel blieben als Zeichen des Unglücks. Aber schon kamen Robbies heran, um aufzuräumen.

»Wird er abberufen?«, fragte ich. »Er kann nicht viel älter als zwanzig sein.« Dann erst blickte ich Sigi ins Gesicht und bemerkte den Ausdruck unsagbaren Schreckens.

»Was ist mit dir?«, fragte ich.

»Mich hat es erwischt«, antwortete er. Er hob eine Hand, und ich sah einen klaffenden Schnitt am Daumenansatz. Ein Splitter hatte ihn getroffen. Zuerst hatte er es gar nicht gemerkt. Mir wurde schlecht.

Die Kommission setzte sich aus Vertretern mehrerer Dezernate zusammen – aus Ärzten und Psychologen, Lehrern und Pädagogen, Pfarrern und Ordensschwestern, Theater- und Fernsehleuten. Den meisten von ihnen war die Atmosphäre eines Labors fremd, und sie standen ein wenig unsicher zwischen den Aufbauten aus elektronischen Schaltungen und Glasbehältern herum, vermieden es ängstlich, auf die wirr am Boden liegenden Leitungen und Schläuche zu treten.

Der Leiter des Psychotechnikcenters, Roger Weiss, führte sie an eine Reihe von Kojen heran – abgetrennt durch Kunststoffwände, die Einsicht von vorne frei. In jeder Koje stand eine Liege, und auf jeder Liege sah man eine reglose Gestalt. An der Hinterwand waren Maschinerien aufgebaut, durch Leitungen mit Helmen verbunden, die über die Köpfe der Liegenden gestülpt waren.

»Unsere Versuchspersonen stehen direkt vor der Abberufung«, erklärte der Wissenschaftler, und er fügte, mit leicht spöttischem Blick an den Pater gewandt, hinzu: »Sie befinden sich jenseits von Gut und Böse.« Auf ein Zeichen hin legte sein Assistent einen Hebel um. In die Personen kam Leben, Arme und Beine zuckten, die Lippen bewegten sich, die zuvor starren Gesichter wurden lebendig, die Mienen drückten alles Mögliche aus: Freude, Lust, Seligkeit, bei einigen auch Furcht und Schrecken. »Diese Erfindung, meine Herren, kann unsere Kommunikationsmittel auf eine völlig neue Basis stellen. Es ist eine Anlage zum Einspielen von Informationen ins Bewusstsein. Kein Umweg mehr über Licht oder Schall – direkte Kommunikation. Ich brauche nichts mehr zu sagen – die Bedeutung können Sie selbst ermessen.«

Der Leiter des Dezernats für Bildungswesen trat vor. »Kann man auch Lehrinformation übertragen – sodass sie im Gedächtnis haftet?«

Der Psychotechniker nickte. »Das ist möglich.«

»Und wie steht es mit der Übermittlung von Unterhaltungsprogrammen?«, fragte der Konsulent der Fernsehanstalten.

»Sie brauchen keine Bildschirme mehr. Die Programme werden ohne Umweg ins Gehirn gespielt. Ja – noch mehr: Man kann die Sendung so gestalten, dass der Adressat zum Mitspieler wird, dass er das, was geschieht, selbst erlebt und erleidet.«

Allmählich erholten sich die Männer von ihrer Verblüffung, das Spiel der Fragen und Antworten wurde lebhafter. Es war der Pater, der sich als Erster für einen Test zur Verfügung stellte. Und was er nie für möglich gehalten hatte, geschah: Er war Jesse James, Tarzan, Frankenstein, Kapitän Nemo …

»Darf ich die Herren zum Essen bitten?«, fragte der Gastgeber. »Danach können wir uns über die Auswertung unterhalten.«

Lil hat sich großartig benommen. Bisher hat sie mich noch nicht gemeldet. Ich werde ihr meinen Taschenrekorder schenken, ich weiß, dass sie ihn gern haben möchte. Vielleicht schweigt sie auch weiterhin. Das ist das Wichtigste.

Die Wunde schmerzt mich kaum, aber sie fängt immer wieder zu bluten an. Ich habe ein Papiertaschentuch zerknüllt und halte es in der Faust. Beim Unterricht habe ich mich zu konzentrieren versucht … ein Test – das wäre das letzte, was ich brauche. Aber die Gymnastik macht mir Sorgen. Heute kann ich auf keinen Fall mitmachen. Irgendwie muss ich mich drücken. Vielleicht verbessert sich mein Zustand bis morgen – es gibt Gerüchte, wonach Verletzungen von selbst abheilen können. Doch Definitives weiß keiner. Niemand, der sich verletzt hat und abtransportiert wurde, ist zurückgekehrt. Ich glaube, sie alle werden abberufen. Wenn ich bis morgen durchhalte, ist schon viel gewonnen. Morgen haben wir Handarbeit, und ich komme an den Kitt heran. Es müsste doch möglich sein, den Schnitt zu verkleben. Hoffentlich dreht Lil nicht durch. Heute Abend haben wir unsere Gemeinschaftsstunde. Da ist sie meist sehr aktiv. Das mochte ich sonst immer gern, aber diesmal wäre es schlimm. Vielleicht lässt sie mich ausruhen, ich bin schrecklich müde. Ich werde sie darum bitten.

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