Durch einen kurzen Flur gelangten sie ins Wohnzimmer, dessen Ausblick Oda für einen Moment die Sprache verschlug. Natürlich kannte sie den Blick auf den Jadebusen. Nur nicht aus dieser Höhe. Das war schon beeindruckend. Unterhalb des Fensters robbte sich das Meer mit schaumbewehrten Wellenkronen ans Ufer heran, auf der anderen Seite des Jadebusens waren Dangast und die Windkrafträder in Butjadingen durch einen leichten Seenebelschleier zu erkennen.
»Schön haben Sie es hier«, sagte Christine Cordes.
»Finden Sie?« Tomke hörte einen Moment auf zu schniefen. »Ja, ist schon nicht schlecht, hier zu leben. Gibt Schlimmeres. Mein Vater hat die Wohnung gekauft. Ich darf hier wohnen.« Wieder zog sie die Nase hoch und ließ sich auf einen der beiden roten Sessel fallen. Oda blickte noch einen Moment aufs bewegte Wasser, während Christine Cordes auf der mit einem roten Laken verhüllten Couch Platz nahm.
»Ich kann gar nicht fassen, dass er tot ist«, flüsterte Tomke. Oda setzte sich in den anderen Sessel.
»Das glaube ich.« Christine Cordes sprach sanft. Wie zu einem Kind.
Oda vermutete, dass Tomke nicht allein wegen des Todes ihres Vaters Schwarz trug. Sie war das genaue Gegenstück zu ihrer weiß durchscheinenden Mutter. Die junge Frau war deutlich größer. Kräftiger. Sie ähnelte mehr ihrem Vater, obwohl ihr Haar blauschwarz gefärbt war. Zur verwaschenen schwarzen Jeans trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift »Saltatio Mortis« über einem ebenfalls schwarzen Sweatshirt. Saltatio Mortis. Hieß das nicht Totentanz? Was für ein irrwitziger Zufall, dass sie gerade heute dieses Shirt trug.
»Er fehlt mir jetzt schon.« Tränen liefen ungehindert Tomkes Wangen hinab. Ein Weinkrampf ergriff sie. Die Neue ließ ihr Zeit. Fehlte nur, dass sie Beenkes Tochter die Hand streichelte. Oda sah sich im Raum um. Ihr Blick blieb an zwei Fotos in schmalen Silberrahmen hängen, die auf einer schwarz gestrichenen alten Kommode standen. Neben den Fotos stand eine mit Wachs beträufelte Flasche, auf deren Hals eine halb abgebrannte schwarze Kerze steckte. Über der Couch hing ein auf Leinwand gemaltes Pentagramm.
»Haben Sie das gemalt?« Oda wollte das Heulen nicht länger angucken. Wenn die Neue schon nicht in die Pötte kam, musste sie eben tätig werden. Sie zeigte auf das Bild.
»Ja, mit Acrylfarbe.« Tomke Beenke sah von ihr zur Leinwand. »Man sieht es, nicht? Ist etwas stümperhaft, doch das ist egal. Es schützt mich vor dämonischen Mächten.«
»Ich dachte, ein Pentagramm wäre ein Symbol für die Anbetung Satans«, warf Christine ein.
»Nur, wenn eine Spitze nach unten zeigt«, entgegnete Oda. Vor Jahren hatte sie es mal mit einem Fall von Teufelsanbetung zu tun gehabt. Die Arbeit daran war ihr tatsächlich unter die Haut gegangen, und sie war mehr als erleichtert gewesen, als sie den Fall schließlich der Staatsanwaltschaft übergeben konnten.
Tomke nickte. »Stimmt. Bei zwei nach unten gerichteten Spitzen schützt es. Aber das wissen die meisten Leute nicht.«
Christine Cordes’ Blick wanderte jetzt auch auf die Fotos. Auf dem einen waren Tomke und ein junger Mann zu sehen, das andere zeigte sie mit ihrem Vater. Auch auf den Bildern war Tomke schwarz gekleidet, wirkte wie ein dunkler Schatten neben dem distinguierten John Beenke und dem salopp gekleideten jüngeren Mann. Alle hatten die gleiche Mundpartie, das gleiche Lächeln.
»Das sind schöne Aufnahmen«, lobte Christine Cordes.
»Ja, das Foto von Papa, Max und mir ist auf Spiekeroog entstanden, am Tag der Eröffnung seines Hotels.«
»Hat Ihre Mutter es geschossen?«, warf Oda ein.
»Meine Mutter? Nein.« Tomke Beenke sah Oda an, als sei das ein vollkommen abwegiger Gedanke.
Interessant, dachte Oda. »Haben Sie eine Ahnung, mit wem Ihr Vater sich so heftig gestritten haben könnte, dass die Situation derartig eskalierte?«, fragte sie.
Tomke schnaufte ins Taschentuch, steckte es in die Hosentasche und wischte sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Augen. »Nein. Wirklich nicht. Ich habe gedacht, ich weiß alles über meinen Vater, aber … ich habe mich wohl geirrt.«
Christine Cordes zog den Lederblock aus der Tasche, klappte ihn auf und spielte mit dem Stift in der rechten Hand. »Wie war denn Ihr Verhältnis zu ihm?«
»Gut. Wir haben uns prima verstanden.« Tomke schniefte.
»Und Ihr Bruder?«
»Max? Der auch. Aber eher mehr auf Abstand. Liegt vielleicht auch daran, dass Max inzwischen auf Spiekeroog lebt. Wie gesagt, er leitet da das Hotel ›Deichblick‹. Ist ein kleines Hotel. Hat nur zwanzig Zimmer. Die sind aber jetzt alle renoviert worden und richtig stylish.«
»Das erwähnte Ihre Mutter bereits«, sagte Christine Cordes.
»Klar. Wie hätte ich nur daran zweifeln können. Mutter ist mehr als stolz auf Max. Das war sie immer schon.« Der Unterton in Tomkes Stimme schlug um. Gelangweilte Distanz wurde spürbar. Christine Cordes ging jedoch nicht darauf ein.
»Auf Sie ist sie bestimmt auch stolz.«
Oda konnte den weichgespülten Tonfall ihrer Kollegin nicht mehr ertragen. »Wie ist denn das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Bruder?«, fragte sie.
»Wieso?« Überrascht sah Tomke sie an.
»Nur so. Es klang gerade, als wäre das nicht so gut.«
»Och, nee, eigentlich verstehen wir uns. Aber wir sind halt total unterschiedlich.«
»Was ja nichts Schlechtes sein muss«, mischte sich Christine Cordes wieder ein. »Sagen Sie, Ihre Mutter erzählte, dass Sie beim Kurier arbeiten. Hat man Sie dort vom Tod Ihres Vaters in Kenntnis gesetzt, und Sie sind daraufhin nach Hause gefahren?«
»N… nein.« Jetzt zögerte Tomke. »Ich bin noch krankgeschrieben. Mein Vater hat mich erst gestern aus dem Krankenhaus abgeholt und zu Hause abgesetzt. Nächste Woche muss ich wieder zum Dienst.«
***
Im Foyer der Polizeiinspektion betrachtete ein Mann die dort ausgehängten Fahndungsplakate. Während Oda Wagner draußen noch eine Zigarette rauchte, lief Christine ins Gebäude und eilte an ihm und dem kleinen Glasfenster vorbei, hinter dem der Kollege Thomsen seinen Dienst versah. Was er ihr nachrief, hörte sie durch die dicke Panzerglasscheibe nicht, die den Eingangsbereich vom eigentlichen Polizeitrakt trennte. Christine musste dringend aufs Klo. Sie hätte zwar auch bei Tomke Beenke gehen können, doch das wollte sie nicht. Wirkte irgendwie unprofessionell. Außerdem war es ein gutes Beckenboden- und Blasentraining, hatte sie sich gedacht, als sie die Muskeln während der Rückfahrt anspannte. Nun lief sie, so schnell es ging, die schmale Treppe in den zweiten Stock hoch. Sie warf Jacke und Tasche auf ihren Schreibtisch und hetzte zur Toilette. Erleichtert kehrte sie kurze Zeit später zurück.
»Na, den Mörder schon gefasst?«, feixte Nieksteit, der ihr auf dem Flur entgegenkam.
»Klar, er sitzt schon mit Hand- und Fußfesseln im Verlies«, gab Christine fröhlich zurück. Der schlaksige Nieksteit war der Einzige, zu dem sie auf Anhieb einen freundschaftlichen Draht gehabt hatte. Stets sah er aus, als käme er direkt aus dem Bett: verknittert und meist mit einem Fleck auf dem Sweatshirt. Seine roten Haare erinnerten ebenso wie sein verschmitzter Gesichtsausdruck eher an Pumuckl als an einen Kommissar.
»Und … wie sieht es wirklich aus?« Nieksteit öffnete die Tür zur Personalküche und dann das Fenster, zündete sich eine Zigarette an und beugte sich hinaus. In den Büros war das Rauchen schon seit geraumer Zeit untersagt, daher traf man Nieksteit oft in diesem Raum an, in dem er heimlich rauchte.
»Was du machst, ist erstens nicht gestattet und zweitens nicht gesund«, mahnte Christine. Ich benehme mich ja, als wäre ich seine Mutter, schalt sie sich augenblicklich. Dabei waren sie nur wenige Jahre auseinander. Auch wenn ihr Kollege durch seine Strubbelhaare und die Kleidung immer noch wie ein ewiger Student aussah.
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