»Haben Sie denn nicht gemerkt, dass Frau Beenke total neben sich stand? Meine Güte, wir kamen nicht nur mit der Nachricht, dass ihr Mann tot ist, wir mussten ihr auch noch erklären, dass er ermordet wurde. Da kann man nicht von normalen Umständen ausgehen. Sie haben überhaupt kein Taktgefühl.« Christine war es leid, höflich mit dieser Oda umzugehen, das hatte sie nicht verdient.
Aber statt auf Christines Bemerkung einzugehen, legte ihre neue Kollegin unbeeindruckt nach. »Vielleicht hat Frau Beenke Alkoholprobleme und war schon leicht angeschickert. So einen Eindruck machte sie jedenfalls.«
»Dass Sie ihr das unterstellen!« Christine war erbost. »Außerdem riecht man so was doch.«
»Sind Sie wirklich so naiv, Kollegin? Ich denke, Sie kommen aus der Großstadt. Es gibt Spirituosen, die riecht man nicht. Wodka zum Beispiel.«
»Da kennen Sie sich wohl ziemlich gut aus, was?« Christine wurde langsam giftig. Um sich wieder ein wenig zu beruhigen, schob sie ihren Drehstuhl zurück, stand auf und ging in die Personalküche, wo sie sich einen weiteren Kaffee eingoss. Nicht dass sie sich von Oda Wagner derart reizen ließ, etwas zu entgegnen, was sie später bereuen würde.
Als sie ins Büro zurückkam, saß ihr Chef auf der Schreibtischkante. Durch seine kräftige Statur wirkte der Raum sofort überfüllt. Das konnte allerdings auch an dem intensiven Duft seines Rasierwassers liegen.
»Mmh. Kaffee. Krieg ich auch einen?« Siebelt sah sie bittend an.
»Natürlich. Milch und Zucker?«
»Beides wäre klasse. Zwei Löffel bitte.«
Christine stellte ihren Becher ab, drehte um und kam kurz darauf mit einem weiteren für Hendrik Siebelt zurück. »Bitte schön. Die Kanne ist nun allerdings leer.« Sie blickte ihre Kollegin lächelnd an. Denn, nein, jetzt noch neuen Kaffee aufzusetzen, während Oda Wagner hier mit ihrem Chef über den Fall sprach, das kam für sie nicht infrage.
»Danke.« Siebelt nahm den Becher entgegen. »Was gibt’s zu berichten?«
Ohne ein Wort zu sagen, sah Oda Wagner Christine herausfordernd an.
Doch sie ignorierte ihre Kollegin und fasste zusammen, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Oda Wagner malte unterdessen kleine Smileys auf ihre Schreibtischunterlage, das Werbegeschenk einer Bank.
»Jedenfalls wohnt die Tochter hier vor Ort, der Sohn auf Spiekeroog, und der war auch die letzten Tage nicht hier, wenn man Frau Beenke glauben kann. Er führt auf der Insel ein Hotel, das ›Deichblick‹«, schloss Christine. »Also werden wir gleich mal zur Tochter fahren.«
»Tut das.« Siebelt schob sich vom Schreibtisch, trank im Stehen aus und drückte Christine den leeren Becher in die Hand. »Den Bericht brauche ich spätestens heute Nachmittag. Die Presse sitzt mir bereits im Nacken, schließlich war John Beenke nicht irgendwer. Mit ein paar Fakten will ich schon aufwarten können. Dr. Krüger hat übrigens versprochen, den Obduktionsbefund später rüberzufaxen.« Er ging zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Wie Oda gerade berichtete, als Sie so freundlich waren und mir den Kaffee holten, sprach Beenkes Sekretärin davon, dass er ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Tochter hatte. Dann kann sie uns vielleicht mehr sagen als die Ehefrau. Kitzeln Sie also alles aus der Tochter raus. Das haben Sie bestimmt in Hannover gelernt.« Er zwinkerte erst ihr und dann Oda zu.
Was sollte das denn werden? Wurde sie etwa von den beiden getestet? Blödmann, dachte Christine, als er den Raum verließ. Aus dem Augenwinkel sah sie das schmale Lächeln ihrer Kollegin. Beides Blödmänner.
Oda Wagner tippte kurz auf der Tastatur ihres PCs, griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. Am anderen Ende musste jemand direkt neben dem Telefon gesessen haben, denn kaum hatte sie das Wählen beendet, sagte sie: »Moin, Frau Beenke. Oda Wagner hier, Kripo Wilhelmshaven. Meine Kollegin und ich müssten gleich mal mit Ihnen sprechen. Sind Sie zu Hause?«
Tomke Beenke schien das zu bestätigen, denn Oda Wagner sagte: »Okay, wir machen uns direkt auf den Weg. Bis gleich.« Damit legte sie auf, öffnete ein Fenster und nahm ihre abgetragene Lederjacke vom Haken. »Tja, dann woll’n wir mal … Die Luft hier drinnen ist sowieso etwas verbraucht, da tut ein wenig frische Luft gut.« Oda Wagner schlüpfte in die Jacke. »Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Sehen Sie zu, dass Sie mit der Tochter nicht so harmlos umgehen wie mit der Mutter. Sonst werde ich dazwischengehen.« Sie schnappte sich ihren Kaffeebecher und verließ den Raum. »Wir sehen uns unten.«
Christine betrachtete die beiden anderen leeren Kaffeebecher und sah ihrer Kollegin nach. Was meinten Siebelt und diese Wagner eigentlich, mit wem sie es zu tun hatten?
***
Wieder saß Oda auf dem Beifahrersitz, als sie zu Tomke Beenke fuhren, die in einem Appartement am Südstrand lebte.
»Die lütte Beenke weiß es schon«, sagte Oda unvermittelt. »Ich hab ihrer verweinten Stimme angehört, dass sie die traurige Nachricht schon erhalten hat. Bestimmt von ihrer Mutter. Ich frag mich nur, warum Tomke Beenke nicht sofort zu ihr gefahren ist.«
»Das wird sie uns bestimmt gleich erzählen«, antwortete Christine Cordes ziemlich emotionslos. »Ich müsste mal eben beim Bäcker anhalten, wenn das für Sie in Ordnung ist. Meine Brotbestände zu Hause könnten nicht mal eine Maus ernähren, und ich weiß ja nicht, wie lange wir heute arbeiten.«
Oda warf ihr einen schrägen Blick zu. »Von mir aus, aber selbst in Wilhelmshaven haben die Supermärkte bis einundzwanzig Uhr auf.«
Ihr Kommentar schreckte Christine Cordes nicht ab, zum Glück dauerte der Brotkauf jedoch nicht lang. Als sie über den Grodendamm fuhren, blickte Oda nach links über den Großen Hafen. Vereinzelte Segelboote lagen noch an der Marina, sicher hartgesottene Segler, die auch im Winter nicht auf ihren Sport verzichten wollten.
Ihrer Kollegin mochten die gleichen Gedanken durch den Kopf gegangen sein, sie sagte: »Es ist schon beeindruckend, wie viel Wasser Wilhelmshaven hat.«
»Na ja«, entgegnete Oda. »Das mag daran liegen, dass die Stadt am Jadebusen liegt.«
»Natürlich, aber für mich als Binnenländerin ist es jedes Mal wieder faszinierend. So nah hatten wir den Strand in Hannover nicht. Bis zum Maschsee waren wir immer eine knappe Dreiviertelstunde unterwegs.«
»Tja«, gab Oda lediglich zurück. Was sollte sie auch sonst dazu sagen? Es interessierte sie ehrlich gesagt nicht wirklich, wo und wie die Neue früher gewohnt hatte.
Einen Parkplatz in einer der Parkbuchten entlang der Straße zu ergattern, gestaltete sich als gar nicht so einfach, und so mussten sie ein gutes Stück laufen, bis sie den Apartmentkomplex aus roten Backsteinen und viel Glas erreichten, in dem Tomke Beenke lebte.
»Nicht schlecht«, meinte Christine Cordes, und Oda vermutete: »Da werden die Eltern wohl ordentlich zur Miete zubuttern müssen. Die Mutter hat doch beiläufig erwähnt, dass ihre Tochter noch nicht lange beim Wilhelmshavener Kurier arbeitet. Wohnungen in dieser Lage sind nicht gerade günstig.«
»Ich weiß«, bestätigte Christine Cordes. »Wir haben uns hier auch mal was angeguckt, als mein Mann nach Wilhelmshaven zog. Aber daraus ist nichts geworden.«
Sie stiegen die Stufen zum Eingang hoch, Christine Cordes suchte den Namen Beenke in der langen Reihe der Klingelschilder und drückte schließlich den Knopf. Fast augenblicklich wurde der Summer gedrückt. Als sie im vierten Stock aus dem Aufzug traten, war die gegenüberliegende Tür geöffnet. Die junge Frau in der Wohnungstür konnte Oda nicht nur am verweinten Gesicht als Tochter des Opfers erkennen, sie war eindeutig die Frau von dem Foto auf Beenkes Schreibtisch.
»Mein Beileid«, sagten sie und Christine Cordes gleichzeitig.
»Danke.« Tomke Beenke zog die Nase hoch und wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die Augen. »Kommen Sie doch herein.«
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