„Strauss, gut, dass ich Sie treffe. Hören Sie, es geht um eine Brücke am Golden Gate. Können Sie für uns untersuchen, ob so ein Bauwerk machbar ist?“
Strauss nahm die Herausforderung an – die allerdings von einem ganz anderen Kaliber war als jede andere zuvor. Hier galt es eine ganze Meile zu überbrücken! Die ersten Entwürfe, die er 1921 vorlegte und die eine kombinierte Ausleger- und Hängebrücke vorsahen, wurden von Behörden und Öffentlichkeit einhellig abgelehnt.
Als die Versammlung sich zerstreut hat, höre ich, wie Strauss seufzt. Er weiß, dass noch ein mühsamer Weg vor ihm liegt.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Strauss“, sage ich aufmunternd, „Ihre Brücke wird gebaut werden. Und mehr noch: Sie wird die schönste und berühmteste der ganzen Welt.“
Aber Strauss blickt durch mich hindurch, hat er mich nicht gehört? Ach, wie dumm von mir – ich stamme doch aus einer ganz anderen Zeit. Ich steige wieder in den Aufzug, und diesmal drücke ich den Knopf mit der Jahreszahl 1933.
Und sie wird doch gebaut
Der Lärm von Baumaschinen empfängt mich. Das vorher so idyllische Goldene Tor hat sich in eine Großbaustelle verwandelt, Heerscharen von Arbeitern wuseln herum. Und da ist auch der kleine Mann wieder. Er hat seinen Arm um die Schultern einer um vieles jüngeren Frau gelegt. Mit einer weit ausholenden Geste weist er oben von den Felsen hinüber zu der Meerenge. „Schau Liebes“, ruft er und versucht dabei, den Baulärm zu übertönen, „hier wird einmal meine Brücke stehen.“
Seine Frau schaut ihn bewundernd an. Toller Typ, sagt ihr Blick. „Das Betonfundament für den ersten Pylonen da drüben konnten wir schon gießen“, fährt Strauss fort, und es klingt, als habe er es eigenhändig auf das felsige Ufer gesetzt, „aber hier auf der südlichen Seite müssen wir einen Sockel mitten ins tiefe Meer bauen, so hoch wie ein zehnstöckiges Haus.“
Wie hat Strauss es geschafft, dass seine Vision Wirklichkeit werden konnte? Schließlich war doch sein erster Entwurf ein Reinfall gewesen. Doch statt aufzugeben, beriet er sich mit den besten Ingenieuren und Architekten seiner Zeit.
Sein klügster Schachzug war es, den Bauingenieur und Professor Charles Ellis in sein Team zu holen. Während Strauss unermüdlich in Politikerbüros ein und aus ging und einflussreiche Leute für seine Idee zu gewinnen suchte, führte Ellis die eigentliche Ingenieursarbeit durch.
Nach den Probebohrungen und Vermessungen vor Ort fuhr er zurück nach Chicago, zog sich in sein Büro zurück und begann zu rechnen, zwölf, vierzehn Stunden lang jeden Tag, bis ihm die Zahlen vor den Augen verschwammen. Seine Frau sagte, noch im Schlaf habe Ellis etwas von „Cosinus“ und „Sinus“ gemurmelt. Seine Werkzeuge: ein meterhoher Stapel Papier, eine Schachtel Bleistifte, ein runder Rechenschieber und eine handbetriebene Addiermaschine.
Und so nahm auf seinem Schreibtisch eine ganz neue, kühne Brückenkonstruktion Formen an, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte: 2,7 Kilometer lang, 27 Meter breit und 227 Meter hoch. Mit ihrer Spannweite von 1.280 Metern sollte die Golden Gate Bridge viele Jahre die längste Hängebrücke der Welt sein.
Und was sie alles leisten musste: heftigem Wind und hohen Wellen widerstehen, starken Strömungen standhalten und gelegentlich ein Erdbeben mittlerer Stärke wegstecken. Und zur Meeresoberfläche sollte auch bei Flut genug Abstand sein, dass die mächtigen Kriegsschiffe der US-Marine ohne Kollisionsgefahr hindurchfahren konnten.
Alles Teamwork
Die nächste Station auf meiner Zeitreise ist das Jahr 1937, genauer gesagt: der 28. Mai. Das große Werk ist vollbracht, die Golden Gate Bridge wird eröffnet! Ein bewegender Tag für San Francisco und die ganze Nation.
Schon am Tag zuvor war die Brücke für Fußgänger freigegeben worden, die diese Gelegenheit zu Tausenden nutzten. Und heute darf auch der Autoverkehr die neuen Fahrbahnen einweihen.
Ich sehe, wie eine Fahrzeugkolonne sich nähert. Hübsche, festlich gekleidete Frauen, die Festköniginnen, bilden eine Kette und stellen sich den anrollenden Autos in den Weg. Die Kolonne stoppt, und der Bürgermeister der Stadt und mehrere Amtsträger steigen aus. Darunter auch Joseph Strauss.
„Und nun, Mr. Strauss“, ruft eine der Damen, „übergeben Sie Ihre Brücke an den Highway District!“
Strauss, der auch mit Hut nicht größer ist als die Frauen vor ihm, ist inzwischen 67 Jahre alt, und die zwanzig Jahre, die er dieser Brücke gewidmet hat, haben ihn sichtlich mitgenommen. Seine Hände zittern, während er spricht.
„Diese Brücke braucht keine Loblieder und keine großen Reden“, beginnt er mit leiser Stimme, „sie spricht für sich selbst. Wir, die wir so lange und so hart gearbeitet haben, sind dankbar. Was die Natur vor langer Zeit getrennt hat, fügt der Mensch mit dieser Brücke wieder zusammen.“
Ach, wo steckt eigentlich Charles Ellis? Soweit ich weiß, hat er doch die endgültigen Pläne erstellt. Doch Strauss, der kleine Mann mit dem großen Ego, hat ihm diesen Ruhm nicht gegönnt. Kaum waren die Pläne von den Behörden genehmigt worden, schickte Strauss seinen leitenden Ingenieur in Urlaub. Kurz vor Ende dieses Urlaubs erfuhr Ellis, dass er nicht mehr wiederzukommen brauchte.
Anschließend ging Strauss sehr gründlich vor: Er entfernte Ellis‘ Namen aus allen Dokumenten, wie ein siegreicher Herrscher, der die Geschichtsbücher zu seinen eigenen Gunsten ändert. Und schon bald hätte jeder bei der Erwähnung des Namens erstaunt gefragt: Who the fuck is Ellis?
Tatsächlich ist die Brücke ein Ergebnis von Teamwork. Von ungezählten Bauarbeitern, Stahlarbeitern und Malern. Von den vielen Fachleuten, die ihr Wissen und ihre Ideen beigetragen haben, so zum Beispiel der Architekt Irving F. Morrow, der das äußere Aussehen der Brücke mitgestaltet hat. Das Art-déco-Design entstammt seiner Ideenkiste und ebenso die unverwechselbare Farbe, genannt „International Orange“.
Und ohne Amadeo P. Giannini, den Präsidenten der Bank of America in San Francisco, wäre die Brücke zu der Zeit überhaupt nicht gebaut worden. Denn während der Wirtschaftskrise, der „Großen Depression“, die auf den Börsencrash von 1929 folgte, hätte man jeden für verrückt erklärt, der Anleihen für ein solch gewaltiges Projekt zu kaufen wagte.
In dieser Situation kam Strauss in Gianninis Büro und bat ihn um Hilfe. „Wenn die Bank of America diese Anleihen nicht kauft, kann die Brücke nicht gebaut werden“, sagte er rundheraus.
Giannini nickte. „Ich verstehe. Was meinen Sie, wie lange wird Ihre Brücke halten?“
„Für immer!“, erwiderte Strauss mit Überzeugung.
„Kalifornien braucht diese Brücke“, sagte Giannini. „Wir werden die Anleihen kaufen.“
Jeder Autofahrer, der in den nachfolgenden Jahrzehnten die Brücke passierte, würde mit seiner Mautgebühr dazu beitragen, Tilgung und Zinsen des Kapitals in Höhe von 35 Millionen Dollar zu bezahlen.
Die letzte Anleihe wurde 1971 eingelöst, und seitdem dienen die Mauteinnahmen nur noch dazu, das durch Wind und Meer, Wetter und Verkehr strapazierte Bauwerk instand zu halten und die Stabilität noch weiter zu verbessern.
Übrigens gelang es Strauss nicht nur, seine Brücke in kürzerer Zeit, sondern auch zu geringeren Kosten zu bauen, als ursprünglich veranschlagt. Allein das war schon eine erstaunliche Leistung.
Ich steige wieder in meinen Aufzug, drücke den obersten Knopf und hoffe, dass die Zeitreisenautomatik intelligent ist und mich nicht in Raum und Zeit stranden lässt.
Da ist sie wieder, die Schöne, immer noch im freundlichen Licht der Morgensonne. Die Autos, die über die Fahrbahnen rollen, wirken unter den mächtigen Pylonen klein und nebensächlich. So als ginge es nicht um eine Verkehrsverbindung, sondern einzig und allein um das Kunstwerk, das die Meerenge des Goldenen Tores schmückt und sich in die Natur einpasst, als hätte es immer schon dazugehört.
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