Das Mädchen, das das Christkind suchte
Text: © Copyright by Lukas Wolfgang Börner
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Verlag:
Lukas Wolfgang Börner
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Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Stadtkinder sind so blöd, dachte Silvia, während sie verlegen in ihrem Griffelkasten kramte. Ihre Mitschüler lachten. Frau Haberfelder stand vor der Tafel und bemühte sich, die Klasse ruhig zu kriegen. Doch der Umstand, dass sie selber sich das Lachen kaum verkneifen konnte, machte jeden ihrer Versuche überflüssig.
„Schschsch!“, feixte die Musiklehrerin hinter einem erhobenen Zeigefinger hervor.
Silvia war ein kleines Mädchen mit runden Bäckchen und schulterlangem dunkelblonden Haar. Sie schaute zu ihrem Schulranzen hinunter. Polly schaute ihr entgegen. Früher hatte sie ihre Puppe nicht mit in den Unterricht genommen. Ja, selbst in den Kindergarten war sie stets allein gegangen. Da hatte sie auch genug Freunde gehabt. Doch Irmi, Dani, Heidi und Ingi waren in ihrem Dorf geblieben und besuchten dort die zweite Klasse bei Frau Gschwendtner. Und auf dem Platz neben der Irmi, wo sie einst gesessen war, saß nun vermutlich die Dani.
Ihre Klassenkameraden lachten noch immer und Frau Haberfelder hatte noch immer nicht zum nötigen Ernst gefunden. Polly, die in einer Seitentasche des Schulranzens saß, rümpfte die Nase über die Lehrerin.
„Wenn ich so eine buschige Blödfrisur hätte wie die, würde ich mal ganz still sein!“, sagte Polly und strich sich mit ihrer Plastikhand durch das glänzend blonde Haar. Silvias Laune besserte sich ein wenig. Wenigstens Polly hielt zu ihr. Sie war zwar nur eine Puppe, ganz aus Plastik und ein bisschen arrogant, aber sie war hier in der Stadt ihre beste und treuste Freundin. Auch wenn Silvia vom Charakter ganz anders war, fühlte sie sich doch von ihr verstanden.
Hier in Tupfing war sie hingegen nur angeeckt. Es war Dezember. Das heißt, sie besuchte die zweite Klasse erst seit gut drei Monaten. Und bereits im September hatte sie sich einen Mahnbrief an ihre Eltern eingehandelt. Die Anklage lautete: „Vulgärstes Vokabular gegenüber einer Mitschülerin“. Aber Silvia hatte gar nicht vorgehabt, ihre Mitschülerin Saskia so zu beleidigen. Sie hatte nur gesehen, dass Saskia keine Lust hatte, ihr Federmäppchen zu benützen. Stattdessen warf sie all ihre Buntstifte, den Radiergummi und den Füller einfach so in den Ranzen. Und wenn sie mit dem Spitzer ihre Stifte spitzte, warf sie die Späne nicht in den Papierkorb, sondern grad wieder in den Ranzen. Daraufhin hatte sie zu Saskia gesagt, dass sie eine alte Schlampe wäre. Im Dorf war das kein schlimmer Ausdruck gewesen, aber hier hatten sich gleich vier Schüler gemeldet und sie bei der Lehrerin verpetzt. Gott sei Dank hatten Mama und Papa nur gelacht und den Wisch unterschrieben. Wenigstens sie waren die gleichen geblieben.
Ihre neuen Mitschüler waren ganz anders als ihre alten. Sie petzten ständig, ja, selbst, wenn man ihnen nur die Zunge raustreckte, verpetzten sie einen. Außerdem redeten sie alle wie Nachrichtensprecher, ganz aufgesetzt und geschwollen. Man durfte hier nicht „Was?“ oder „Ha?“ sagen, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Nein, man bekam immer die gleiche blöde Antwort zu hören: „Das heißt: Wie bitte? “ Silvia hatte in ihrem achtjährigen Leben noch niemals jemanden „Wie bitte?“ sagen hören. Kein halbwegs normaler Mensch redete so!
Der Grund, warum die ganze Klasse lachte, war folgender: Frau Haberfelder hatte eine Auswahl an Musikinstrumenten mitgebracht und wollte diese von ihren Schülern richtig benannt kriegen. Da waren einige seltsame Gebilde dabei mit noch seltsameren Namen wie Dreh-Angel oder Kastanietten. Deshalb verstand es Silvia gleich dreimal nicht, warum es so schrecklich witzig oder furchtbar war, dass sie auf eine Mundharmonika gezeigt und dazu „Fotzenhobel“ gesagt hatte.
In der darauffolgenden Stunde schrieben sie eine Arbeit. Die Schüler sollten sich alle ein Stück voneinander wegsetzen, damit sie nicht vom Nachbarn abschreiben konnten. Silvia fand solche Maßnahmen lächerlich. Denn warum sollte man in Deutsch oder Rechnen abschreiben? Wo war denn da die Schwierigkeit? Sie hatte nur ein einziges Mal in einer dieser Arbeiten nicht die volle Punktzahl erhalten. Das war, als verschiedene Namenwörter auf dem Papier standen und man die richtigen Artikel davor schreiben musste. Da hatte sie vor das Wort „Radio“ „der“ geschrieben, also „der Radio“. Richtig wäre aber „das Radio“ gewesen. Aber von diesem Fehler abgesehen, hatte sie immer alle Aufgaben richtig gelöst.
Diesmal hatten sie kleine Bilder auf dem Blatt und sollten die richtige Bezeichnung dafür hinschreiben. Die Arbeit bezog sich offensichtlich auf die letzte Stunde, in der sie über Milch- und Eiweißprodukte geredet hatten. Abgebildet waren eine Kuh, ein Hendl, eine Geiß, ein Ei, eine Portion Schlagrahm, ein Käs und ein Topfen im Becher. Gähnend schrieb Silvia die Worte „Kuh, Huhn, Ziege, Ei, Sahne, Käse, Quark“ hinter die Abbildungen und drehte das Blatt um. Sie ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen. Die meisten Kinder schrieben fleißig. Zwei, drei andere waren auch schon fertig und hatten ihr Blatt umgedreht. Silvia wechselte einen Blick mit Polly, die ihre schmalen Augenbrauen lupfte.
„So was ist doch kinderleicht!“, sagte sie und Silvia nickte. „Schau nur, wie der neben dir sich abrackert!“, fügte Polly mit einem gehässigen Grinsen hinzu und deutete auf Silvias Banknachbarn.
Basti saß vor dem Blatt Papier und kaute an seinem Lamy herum. Obwohl Silvia ihre Puppe gewöhnlich tadelte, wenn sie andere Leute derart ausrichtete, konnte sie sich diesmal das Grinsen nicht verbeißen. Vor einer Stunde hatte Basti genau wie die anderen über sie gelacht. Dass er nun selbst so hilflos war wie sie vorhin, fand sie irgendwie gerecht.
Basti saß da und wirkte, als wäre er gerade auf dem Wege zum Schafott. Er tat sich in der Schule enorm schwer, obwohl er sich bemühte wie kein anderer. Er hatte rehbraune Haare, einen runden Kopf und dunkle Augen, die nun zusehends verzweifelter dreinschauten. Je länger Silvia ihn so beobachtete, desto mehr stieg Mitleid in ihr auf. Denn Basti hatte im Grunde einen guten Charakter, aber Silvia wusste, dass er auch ein bisschen dumm war. Er war der einzige aus der Klasse, der selbst seinen eigenen Namen falsch schrieb.
Während sie ihn so beobachtete, bemerkte sie, dass Basti begonnen hatte, unter seiner Bank herumzukruschen. Dann schaute er zu Frau Amsler, ihrer Deutschlehrerin, auf, die vorn am Pult saß und selber irgendetwas schrieb, zog vorsichtig ein Heft unter seiner Bank hervor und blätterte mit einer Hand darin. Silvias Augen weiteten sich, als sie sah, dass es das Deutsch-Schulheft war. Basti spickte!
„Verpetz ihn!“, zischte Polly aus dem Ranzen heraus, die den Vorgang ihrerseits beobachtet hatte. „Verpetz ihn! Er würde dich auch verpetzen!“
Doch Silvia rührte sich nicht. Gebannt schaute sie zu, wie Basti ein Wort nach dem andern nachschlug und in seine Arbeit eintrug. Noch einmal vergewisserte er sich, dass Frau Amsler nichts bemerkte, dann erst schaute er sich um, ob er vielleicht von Mitschülern beobachtet wurde, und blickte direkt in Silvias gebanntes Gesicht. Basti versteinerte. Sein Mund klappte auf und seine Haut wurde leichenblass. Er begann, den Kopf zu schütteln, als wollte er sagen: Du verpetzt mich doch nicht, oder?! Bitte verpetz mich nicht!?
Silvia betrachtete ihn und grinste. Dann hob sie ihren rechten Arm. Nun schüttelte Basti noch energischer den Kopf. Sein Gesicht hatte einen flehenden Ausdruck, seine Haut einen ungesund gräulichen Farbton angenommen. Er war ohnehin schlecht in der Schule. Null Punkte wegen Spicken konnte er sich auf gar keinen Fall leisten. Während sich Frau Amsler erhob und auf sie zukam, kramte Basti aus seinem Ranzen eine Wurstsemmel. Er deutete auf die Semmel und dann auf Silvia. Doch sie grinste nur und ließ ihren Arm oben. Immer heftiger und verzweifelter gestikulierte er, doch seine Banknachbarin ging nicht darauf ein. Als die Deutschlehrerin vor ihr stand, war Basti in sich zusammengesackt.
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