Lukas Wolfgang Börner - Zwischen den Jahren

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Auf der Jagd nach seinem jäh zum Leben erwachten Selfie-Stick gerät der notorische Selbstverwirklicher Lukas, nach einem Weihnachtsabend im Familienkreis, in das Geäst des Christbaums. Auf der anderen Seite findet er sich in einer märchenhaften Winterlandschaft voll bizarrer Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten … und in Kindergestalt wieder. Sich seinen beiden Neffen Lorenz und Vitus anschließend, die auf der Flucht vor einem grauenerregenden Hexenweib durch die nächtliche Landschaft irren, eröffnet sich ihm ein Weihnachtsabenteuer, so wahnwitzig und wunderbar, wie es allein dem kindlichen Spiel zu entspringen vermag.

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Zwischen den Jahren

Text: © Copyright by Lukas Wolfgang Börner

Umschlaggestaltung: © Copyright by Sabrina Börner

Verlag:

Lukas Wolfgang Börner

info@boerner-literatur.de

www.boerner-literatur.de

Druck:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Bei Kletzenbrot und Panettone

„Aber wisst ihr, warum es wirklich gut ist, Kinder zu haben?“, fuhr mein Bruder fort.

„Kann ich mir gar nicht vorstellen“, erwiderte ich, denn Vitus, der kleine Sauhund, hatte mir wieder in den Zeh gebissen. Mein Fehler war das ironisch überempfindliche „Au!“ beim ersten, versehentlichen Biss gewesen. Nun musste ich bluten.

Mein Bruder lachte gemütlich. Dick war er geworden – oder macht das der Vollbart?

„Jahrelang hatten wir lauter hübsche Ideen, die wir nie in die Tat umgesetzt haben. Raus aus der Stadt wollten wir, Whale-Watchen wollten wir, jedes Sommerwochenende am See zelten. Aber wie oft sind diese Vorhaben am inneren Schweinehund gescheitert, wie oft?“

„Achtmal?“

„Aber mit den Kindern ist man gezwungen , es sich schönzumachen, verstehst du? Man kann nicht alles hinauszögern, sonst sind die Kinder plötzlich groß und halten einem eine fade Kindheit vor. Schau raus!“

„Ich hab doch … aua, zefix!! … eben schon rausgeschaut. Es ist ohnehin schon dunkel.“

„Und es schneit schon wieder. Und das an Heiligabend.“

Ich rieb mir den Zeh. Dass Vitus noch nicht alle Zähne hatte, machte die Angelegenheit nicht weniger schmerzhaft. Lorenz löste sich von der Geschichte, die Luisa, meine Freundin, vorlas, um dreckig zu lachen.

Eltern sollten ihre Kinder heute nicht mehr prügeln, heißt es. Vielleicht darf es aber der Onkel noch …

„Statistisch gesehen, ist es in Mitteleuropa unterdessen wahrscheinlicher, an Ostern Schnee zu haben als an Weihnachten“, fuhr mein Bruder selbstgefällig fort.

Ich bin mir sicher, dass er diese Statistik erfunden hat.

„Jaja, toll habt ihr das gemacht, nach Südtirol zu ziehen!“, erwiderte ich. „Aber dafür haben wir in München erstklassigen Regen. Der ist ungleich schneller und effizienter als euer lahmer, spießiger Schnee.“

„Sneller!“, rief Vitus und vergaß in seiner Euphorie, dass er mich beißen wollte.

„Ja, schneller“, wiederholte ich. „Viel schneller.“

„Birische Opa-Landebahn!“

„Bitte?“

„Ja“, nickte mein Bruder mechanisch, „die Bayerische Oberlandbahn ist noch viel schneller.“

„Das halte ich für ein Gerücht.“

„Oder einfach mal wieder Froschlaich holen und Kaulquappen aufziehen“, fuhr er fort, nachdem er dem Kleinen erklärt hatte, dass es auch andere Beschäftigungen gäbe, als mir in die Zehen zu beißen – und ihn damit prompt an dieses lustige Spiel erinnerte.

„Aber jetzt gibt es keine Kaulquappeln mehr“, meinte Lorenz mit dramatischem Unterton. „Die sind alle ausgestorben.“

„Ausgestorben?“, fragte ich.

„Ja, leider.“

„Die sind nicht ausgestorben“, erwiderte mein Bruder, den Zeigefinger an der Nase. Muss man sich als Vater wirklich so klischeehaft benehmen? „Die Frösche haben sich im Schlamm eingegraben und halten Winterruhe. Und die Kaulquappen …“

„Frösche!“ – Vitus schaute mich entsetzt an. „Macht gaak, gaak!“

„Nein, quak, quak“, verbesserte Lorenz ihn.

„Ah so!“, rief Vitus.

„Quak, quak!“, rief Lorenz.

„Aber das könnte man ja auch …“, begann ich.

„Ah so!“, rief Vitus.

„Quak, quak!“, rief Lorenz.

„Das könnte man ja auch ohne Kinder …“

„Ah so! Ah so!“

„Ich meine, den inneren Schweinehund, da muss man ja nicht zwingend …“

„Ah so!“

„JA! AH SO!“, donnerte ich.

„Quak, quak! Quak, quak!“, quakten Lorenz und Vitus zufrieden.

Ich exte meinen Espresso. Dann kehrte Ruhe ein. Lorenz ließ sich weiter vorlesen und Vitus biss mir vergnügt in die Zehen.

Dann drang ein helles Läuten aus dem Christkindlzimmer.

*

Mitternacht unterm Christbaum

Erst war Vitus zu Bett getragen worden, dann Lorenz. Meine Schwägerin verließ die Stube noch während der Lesung des Nussknackers, weil Vitus ohne Busengrapschen noch immer nicht durchschläft. Dann war mein Bruder verschwunden, um seelischen Beistand zu leisten.

„Ich hätte ja noch ein Geschenk für dich“, hatte Luisa geflüstert. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob du dich freust.“

„Über den Selfie-Stick hab ich mich sehr gefreut.“ Endlich war die Zeit der gesichtslosen Architekturfotografie vorbei. „Aber die Ruhe vor den beiden Schrazen ist, wenn du mich fragst, das größte Geschenk.“

Gähnend tappte ich auf die Terrasse hinaus und ließ noch eine letzte Halbe aus dem Fass.

Ein Fuchs ist mein Bruder schon. Nur an wenigen Stellen hat er unsere Weihnachtstraditionen nachjustiert – dort aber oho. Ein echter Geniestreich war der Austausch des unsäglichen Glühweins gegen Edelvernatsch und Fassbier.

Der Christbaum brannte noch, Luisa war ins Bett gegangen.

Ich lümmelte im Funkellicht und betrachtete die unzähligen Kugeln, Lamettafäden und glitzernden Süßigkeiten.

Wie viel Arbeit doch in so einem Baum steckt! Und wofür? Für gerade mal zwei Wochen Glanz in der Stube, bis der ganze Hokuspokus überstanden ist.

Und doch muss ich gestehen, dass ich mich lange nicht mehr so … kindlich überwältigt gefühlt habe.

Der türkis-silberne Farbenglanz spiegelt sich auf dem Selfi-Stick, zittert auf ihm. Nein, er wackelt , schaukelt , zappelt auf ihm.

Wie ist das möglich? Der Baum steht doch kerzengerade, die Terrassentür ist geschlossen, kein Lüftchen regt sich.

Aber der Selfi-Stick bewegt sich. Langsam, langsam schiebt er sich vorwärts, schüttelt seine Steifheit wie einen Wadenkrampf ab, sucht schlängelnd das Weite.

„Holla! du treuloses Ungetüm!“, rufe ich aus, will ihn packen, aber er zischt und klappert so bedrohlich, dass ich, jäh in ein türkisschillerndes Schlangengesicht starrend, zurückweiche. Dann eilt er davon, rasch und immer rascher, erreicht den Baumstamm, klettert empor und an den gläsernen Äpfeln vorüber, um von der Mitte des Christbaums aus ein letztes Mal zu mir zurückzublicken, die Zunge frech herauszustrecken und in den Untiefen des grünen Dickichts zu verschwinden.

Da löse ich mich aus meiner Schreckensstarre, stürze hinterher, schiebe die Zweige beiseite, bekomme den Dieb am Schwanz zu fassen – und werde mit jäher, außerordentlicher Kraft ins Geäst gezerrt.

*

In Schnee gebettet

Dialog im prallen Mondenschein.

Vitus: „Und des?“

Lorenz: „Ein Busch!“

Beide: „Aaaah!“

Sich nähernd.

Vitus: „Und des?“

Lorenz: „Ein Baum!“

Beide: „Aaaah!“

Ich spüre einen Finger in meinem Auge.

„Und des?“

„Ein Bub!“

„Aaaah!“

Die Stimmen entfernen sich wieder.

„Und des?“

„Ein Bartkauz!“

„Aaaah!“

Ich reiße die Augen auf. Gewiss hab ich nur geträumt, denn ich liege ja in meinem Bett, ein Kissen federt meinen Kopf, eine Decke wärmt meinen … eigenartig gedrungenen Leib.

Doch seltsam: Sowie ich mich rege, zerbröckelt die warme Bettdecke über mir. Und ich liege da und bin ganz bloß. Also wirklich ganz bloß – wenn ich so hinabspähe – und völlig haarlos.

„Und des?“

„Ein blauer Rumbi!“

„Aaaah!“

Ein was? Ich blicke meinen Neffen hinterher. Dort tigern sie durch den Schnee, ebenso nackt wie ich. Der blaue Rumbi scheint aber entwischt zu sein.

„Halt, wartet!“, rufe ich. Aber was ist das? Meine Stimme ist so schrill.

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