Lukas Wolfgang Börner - Den Tod für Tante Trudl!

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Ein Haus. Ein Keller. Dort unten sitzt ein kleines Mädchen. Maja. Sie hat sich selbst dorthin zurückgezogen, um ihrer Tante Trudl und ihrer aufgezwungenen Spielkameradin, der Qual, zu entgehen.
Nach dem absurden Tod ihrer Eltern findet sich Maja im Haus ihrer verhassten Tante wieder, weit weg von ihrer Heimat Tupfing und ihren Freundinnen. Das Gymnasium und die aufdringlichen Mitschüler geben dem introvertierten Mädchen den Rest. Was ihr bleibt: Ihre Gedanken, ihr Hass. Und die Sehnsucht nach Befreiung. Doch die Freiheit ist nur über zwei Umwege zu bekommen: Freitod … oder Mord!
Was wie eine tragische Mädchengeschichte daherkommt, entpuppt sich bereits nach wenigen Seiten als bitterböse Abrechnung mit der als ungerecht empfundenen Welt. Die Tante Trudl wird zum Symbol aller Unterdrückung, die Klassenkameraden zur Gesellschaft, die für alles und jeden Verständnis zeigt, nur nicht für diejenigen, die sich abschotten. Eine subjektive Satire, die in ihrer atmosphärischen Dichte und ihren grotesken Nebenhandlungen stark an Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Gustav Meyrink und Franz Kafka erinnert.
Hier wird Tacheles geredet und der ausgestreckte Moral-Zeigefinger gebrochen, ohne jedoch die fantastische Ästhetik à la Marc Chagall zu beschädigen.

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Lukas Wolfgang Börner

Den Tod für Tante Trudl!

Prosa in schwarzem Rosa

Inhaltsverzeichnis

Versuchung 2

Steckbrief 3

Steckbrief 6

Italienurlaub Zweitausendundsoundsoviel 9

Tod in Buonasera 11

Die schreckliche Qual 14

Nächstes Kapitel 17

Eine frühere Geschichte, die ich erlebte, als ich gerade zwei Tage hier wohnte 20

Gymnasium – Das beste Team 22

Erstes Beispiel 25

Zweites Beispiel 27

Drittes Beispiel 29

Freiheit 30

Ach, übrigens ... 32

Der Majateich 35

Die Nacht 36

Noch oberhalb der Grenze 39

Zwei Wochen später 42

Nachtrag 44

Wie ich Tante Trudl hasse! 47

Drittens: Tante Trudl spielt mit mir das Kartenspiel des Lebens 49

Wenigstens ein Fünkchen Glück 52

Das Klassenfoto 54

Es reicht 57

Den Tod für Tante Trudl! 60

Meine neue beste Freundin – die Qual 65

Das neue Leben 68

Der letzte Abend mit der Qual 70

Die Nacht 72

Finale 75

Rückkehr zu Tante Trudl 81

Versuchung

Da sitzt du nun.

Auf dem grauen Schreibtisch liegt die Schokolade.

Der Regen peitscht an die Scheiben. Kalte Fensterscheiben. Du siehst die wippenden Straßenlaternen nicht, die bald links, bald rechts von sich im Pflaster graben. Du schaust nur auf die Schokolade. Fastenzeit. Eine Woche hast du schon geschafft.

Fastenzeit.

Wie schön es ist, wenn man widersteht. Sagt sie.

Wie schön es ist, der Versuchung zu trotzen.

Wie stolz man nachher auf sich sein kann.

Schokolade ist ungesund. Macht schlechte Zähne. Macht dick. Macht süchtig. Macht.

Was für eine schöne Vorstellung, am Ostersonntag das erste Mal wieder etwas Süßes zu naschen. Ein gutes Gewissen zu haben. Stolz auf sich sein zu können.

Aber warum?

Hinter dem Wasserfall ist der Himmel violett. Das Knurren des schwarzen Gewitterhundes erschüttert den Horizont. Unverwandt betrachtest du die Schokolade.

Was wäre es für ein Gefühl, sie in den Mund zu stecken?

Seine eigenen Regeln über Bord zu werfen? Sich hemmungslos der Versuchung hinzugeben? Sich und der ganzen Welt zu offenbaren, dass man nicht widerstehen kann, dass man keine Selbstdisziplin hat.

Was ist das überhaupt, Selbstdisziplin? Ein selbstgestrickter Maulkorb?

Das Gewitter rast herbei. Eben waren noch zehn Sekunden zwischen Donner und Doria. Nun sind es fünf.

Die Welt hält nicht den Mund. Sie zeigt die Zähne.

Und du? Wer bist du überhaupt? Was tust du hier?

Nimm die Schokolade!

Dich wird, während du sie isst, das schlechte Gewissen wie der Stock des zornigen Frauchens peinigen. Die Reue wird schneller ankommen als der zuckersüße Geschmack. Vielleicht wirst du weinen. Vielleicht wirst du kotzen. Vielleicht wirst du die Selbstachtung verlieren. Das einzige, was dir geblieben ist.

Dort hinten bellt der Hund. Schaurig. Die Fenster knacken.

Iss die Schokolade!

Du schreckst hoch. Ohrenbetäubend. Wie Kastanien trommeln die Hagelkörner gegen die Scheiben.

Sie sagt, das Wichtigste wäre, die Regeln zu befolgen. Sie sagt, man dürfe sich nicht den niedersten Trieben ergeben. Das unterscheide einen von den Käfern und den Insekten.

Aber Käfer und Insekten sind Teil dieser Welt. Wie der Hagel. Wie der wüste Gewitterhund. Sie ist nur sie selbst.

Iss die Schokolade! Sie ist nur sie selbst!

Blitz. DONNER!! Wau! Wau wau!! Das Haus schaukelt. Die Straßenlaternen lösen sich vom Asphalt und fliegen davon.

Du wirst dich hassen, wenn du die Schokolade isst. Du wirst es nicht geheim halten können. Nicht vor dir und nicht vor anderen. Selbstdisziplin gehört zur Menschwerdung, sagt sie. Käfer und Insekten, sagt sie. Käfer und Insekten.

Du hast die Schokolade ergriffen. Du hältst sie schnüffelnd an deine Nase.

Es gibt keinen Kompromiss. Du kannst nicht von ihr nippen. Der Donner bleibt Donner, der Blitz bleibt Blitz. Es gibt keinen Kompromiss. Entweder es gewittert oder es gewittert nicht.

Sie ist nur sie selbst.

Du willst es doch!

Du willst die Schokolade essen. Du willst die ganze Tafel essen. Es ist nicht der Heißhunger auf Schokolade, der dich veranlasst. Der Heißhunger auf die Sünde ist es. Sünde, die dich mit den Käfern und den Insekten vereint. Und mit dem Gewitter.

Schokolade und du. Wer verzehrt wen?

WAU! WAU WAU WAU!!!

Nun ist es soweit. Das ist der teuflische Moment.

Die Schokolade schmilzt auf deiner Zunge. So warm. So feucht. So süß.

Nun muss die Reue kommen. Aber die Sünde ist so süß, so süß.

Wo bleibt sie denn?

Ein weiteres Stück. Ein weiterer Blitz. Die Wände erzittern.

Noch eines und noch eines und noch und noch und noch.

Wo bleibt die Reue, das prügelnde Frauchen? Wo bleibt sie?

Wie der Hagel die Autos auf den Straßen zerbeult. Trümmerhaufen sind es. Nur mehr Trümmerhaufen. Aber du empfindest keine Reue.

Ja, du empfindest etwas. Aber was? Ist es Hochmut? Ist es Stolz?

Wann hast du zuletzt so intensiv gelebt wie jetzt.

Noch nie. Oh, süße Sünde, noch nie.

*

Steckbrief

Worauf das Ganze hier hinausläuft, lässt sich in gewisser Weise bereits vorausdeuten, wenn man das Verhältnis zwischen dem Apfelbaum und der Überschrift, die dich schon vor Beginn der Lektüre meiner grauenhaften Geschichte auf die bittere Konsequenz, die momentan freilich noch nicht eingetroffen ist, es führt aber gar kein Weg daran vorbei, daher wollen wir, ich und du – ich duze dich jetzt einfach mal, denn für mich stellst du als Leser ja bestenfalls ein Abstraktum dar und Abstraktums, oder wie die Mehrzahl davon auch immer heißen mag, möchte ich an und für sich nicht siezen, denn wenn man bedenkt, wie groß der Anteil an Kindern sein dürfte, die dieses Buch in die kleinen Hände kriegen, ich bin ja schließlich auch noch ein Kind, noch, ja, und ich glaube daher, dieser Anteil könnte besonders mächtig sein, „mächtig“ ist hier vielleicht nicht das passende Wort, aber „groß“ habe ich kurz davor schon benützt und meine imaginäre Deutschlehrerin soll nicht gezwungen sein, ein imaginäres W, das „Wiederholung“ heißt, in mein Buch zu zeichnen, und hast du’s gemerkt, dass das „W“ jetzt hinter einer zweiten Wortwiederholung ...

Moment! Es hat geklingelt!

Ach, es war nur wieder dieses wüste Nachbarsmädchen. Ich hasse sie.

Wo waren wir stehen geblieben?

... ähm ... ach ja!

Beim Apfelbaum. Er steht also im Garten und trägt goldene Äpfel – zu jeder Jahreszeit, wie mir Tante Trudl immer wieder versichert. Der Garten mag vielleicht das einzige Stück Erde sein, das hier im Lot ist. Das Haus, unter dem ich gerade sitze, denn ich behaupte, dass man sich im Keller eines Hauses nicht mehr im Haus, sondern unterhalb vom Haus befindet und das mag vielleicht auch der große Reiz eines Kellers sein ...

Als kleineres Kind habe ich mich vor dem Keller unseres Hauses gefürchtet. Aber wenn mich jemand gefragt hätte – mein lieber, lieber Papa vielleicht oder die Mama –, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen zu sagen, dass ich mich vor unserem Haus fürchten würde. Verstehst du? Das muss ja nun heißen, dass der Keller keineswegs Teil des Hauses ist. Er ist vielmehr eine unangenehme Begleiterscheinung. Das schlechte Gewissen vielleicht oder nein: Das Unterbewusstsein ist er. Das Unterbewusstsein ist nämlich jenes Ding, das sich nur durch das Wort „unter“ vom Bewusstsein unterscheidet. Während die anderen Etagen eines Hauses in Geschosse einzuteilen wären, spricht man beim Keller von einem Untergeschoss.

Nun ist also das Haus, unter dem ich gerade sitze, weil, ich befinde mich im Keller, ebenso wie die Häuser ringsumher von einer gewaltigen Hässlichkeit geprägt. Es ist grauer Beton, so weit das Auge reicht. Glaube nicht, mein beklommener Leser, dass es hier irgendwo etwas Grünes gibt. Sofern man von den Biomülltonnen absieht, die am Straßenrand stehen. Oder dass man hier Vögel scharren sieht. Oder dass hier dicke Spinnen in ihren noch dickeren Spinnennetzen hocken und zarte Rhythmen klopfen, die anno dazumal daheim noch wunderschön aus allen Spinnennetzen gedrungen sind.

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