Es gibt ja nur den Apfelbaum und der – und das ist es ja, was ich immer wieder sagen möchte, aber ich komme ja nie zum Punkt; das ist auch so ein Punkt, das Nie-zum-Punkt-Kommen, auf den ich später noch eingehen werde – ja, der Apfelbaum ist einfach zu hoch. Verstanden? Ist das angekommen? Er ist zu hoch. Und dabei ist er gar nicht so hoch. Ein größeres Kind, als ich es bin, könnte da empor klettern und von den goldenen Früchten naschen und zwischen den duftigen braunen Zapfen sitzen und singen und lachen und tanzen. Ich aber bin erbärmlich klein. So klein, dass ich beim Schlendern durch die Stadt achtsam den Kanaldeckeln ausweichen muss, um nicht durch die Spalten zu stürzen.
Das ist natürlich gelogen. Aber ich bin echt klein. Und manchmal komme ich mir noch kleiner vor, als ich es bin. Wie oft ich schon versucht habe, auf den Apfelbaum zu klettern, kann ich mich gar nicht mehr entsinnen. Schönes Wort übrigens: Entsinnen. Das sind so Familienwörter. Es gibt halt einfach Wörter, die benützt kein Mensch mehr. Bis auf eine Familie. Die benützt es ständig und deshalb wundert man sich als Kind, wenn man das Wort benützt und dann von seinen Mitschülern so sonderbar angeschaut wird. Es gibt aber auch andere Wörter, die familienintern ganz falsch verwendet werden, was man später schmerzlich im sozialen Umgang erfahren muss. Wortwendungen wie „nah zum Wasser gebaut“ gibt es nicht, weil es „nah am Wasser gebaut“ heißt. Innerhalb unserer Familie wurde diese Redewendung aber immer falsch gebraucht, was ich am Anfang nicht wusste und dann furchtbar peinlich fand. Heute aber ... heute aber sehne ich mich danach, nochmal Papa oder Mama neben mir sitzen zu haben und das sagen zu hören. Nah zum Wasser gebaut. Weil es so wunderbar falsch ist. Weil es egal ist, ob es falsch ist, denn niemand anderes – auch der Duden – ist nicht von Bedeutung. Nur die Familie zählt. Die Familie und die Art ihrer Kommunikation. Sonst nichts.
Du wunderst dich sicher, warum ich als Kind schon mit so anspruchsvollen Wörtern um mich schmeiße, wie „sozialer Umgang“ oder „Kommunikation“ oder „anspruchsvoll“. Das liegt nur daran, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich ein Erwachsenen- oder ein Kinderbuch schreibe. Die paar wenigen Fremdwörter, die ich kenne, versuche ich daher behutsam in das Gesamtgeschreibsel einzufügen. Außerdem habe ich ein definitorisches Problem – Hui! Schon wieder ein Fremdwort –, denn ich finde, dass ein Buch, das von einem Kind geschrieben wird, ja eigentlich immer ein Kinderbuch ist. Auch wenn es für Kinder ungeeignet wäre. Da haben wir wieder die Ungerechtigkeit auf der Welt. Erwachsene können sich entscheiden, ob sie ein Erwachsenen- oder ein Kinderbuch schreiben wollen, wir Kinder aber sind an dieses eine blödsinnige Genre gebunden. Aber nicht mit mir. Mein Kinderbuch wird euch das Maul stopfen!
Oh, Entschuldigung! Dich habe ich natürlich nicht gemeint, mein abstrakter Lesefreund. Sicher bist du ein Kind und ganz auf meiner Seite. (Man beachte hier das Wortspiel!)
Ich bin also klein. Unfähig auf Bäume zu steigen. Ach, was heißt schon „Bäume“? Es gibt ja nur mehr diesen einen. Und ich bin ein Mädchen. Und außerdem habe ich keinen Charakter.
Das glaubst du nicht? Jeder hat doch einen Charakter, sagst du? Nun, ich nicht! Ich bin total charakterfrei. Deshalb komme ich nie zum Punkt. Ich muss immer mehr und immer mehr erzählen, weil ich im Grunde nichts zu erzählen weiß. Mein ganzes Buch – dieses hier, meine ich – wird ein scheußliches Blätterwirrwarr von nutzlosen Erzählschritten werden, die mich ebenso wenig interessieren wie dich. Aber ich muss es einfach aufschreiben. Und glaub mir, ich wusste anfangs nicht, wie ich es hinschreiben sollte. Ich wollte es zuerst wie ein Märchen aufziehen: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Maja ...“
Oder ich hätte einen Briefroman geschrieben, an mein Unterbewusstsein vielleicht: „Hallo Untermaja, hier spricht Maja ...“
Das Problem an der Sache ist, dass die Geschichte, die ich hiermit beginne, noch nicht passiert ist. Ich will aber, dass sie passiert, und ich habe das Gefühl, dass schöne Dinge eintreffen, wenn ich parallel davon berichte. Es hilft mir auch, meine Gedanken zu ordnen, wenn ich unverfälscht von meiner Seele hinunterschreibe. Denn meine Gedanken sind ein Chaos. Das liegt am fehlenden Charakter. Ein Charakter ist wie ein Knoten, an dem die Gedankenballons miteinander verbunden sind. Wenn kein Knoten, also kein Charakter vorhanden ist, fliegen die Gedanken ungezügelt herum. Sie sind frei. Das ist vielleicht das einzig Positive daran. Die Gedanken sind frei! Dennoch ist ein Charakter erstrebenswerter.
Ach, jetzt habe ich schon so viel geschrieben und wollte doch eigentlich nur einen Steckbrief präsentieren, der dir meine Eigenheiten – nicht zu verwechseln mit Charaktereigenschaften – nahelegt; das ist bei Kinderbüchern so üblich. Dass man am Anfang alles über die Hauptperson erfährt, meine ich. Erwachsenenbücher benötigen oft ihre gesamte Seitenzahl, um die handelnden Personen zu beschreiben. Aber ich bin ja leider an das Kinderbuch gebunden. Deshalb werde ich dir nun alles erzählen, was ich über mich weiß. Damit du bei der schrecklichen Handlung recht mitfiebern kannst.
Aber dieses Kapitel ist schon zu voll dafür. Ich fange also nochmal von Neuem an.
*
Sodala. Jetzt werde ich dir meinen Steckbrief präsentieren. Ich schreibe dazu einfach die Zeilen ab, die ich dem blöden Nachbarsmädchen ins Poesiealbum geschrieben habe. Und das ist im Grunde nichts anderes als ein Steckbrief. Da steht dann sowas, wie „Meine Hobbys sind ...“ oder „Mein Lieblingsfilm ist ...“ oder so. Total dämlich. Wenn Dinge drin stünden wie „Mein Lieblingswort ist ...“ oder „Die Heldentat meines Lebens wäre ...“ oder „Meine liebste Mückenart ist ...“, dann könnte man sich richtig schöne Gedanken machen. Man würde sich fragen, was es für Mückenarten gibt und welche besonders sympathisch oder heimtückisch sind. Man würde über seine Heldentaten nachdenken, die man im Laufe des langen Daseins vollbringen könnte. Man könnte Worte wie „Gang“ oder „werfen“ zu den Lieblingswörtern des Bewusstseins erklären. Stattdessen füllt man so einen beschissenen Steckbrief aus. „Lieblingslied“, „Lieblingsessen“, „Meine beste Freundin ist ...“. Zum Kotzen!
Du merkst, ich kann fluchen. Aber du würdest es nicht für möglich halten, welche anderen Kraftausdrücke in mir schlummern. Für eine Fünftklässlerin bin ich ganz schön auf Zack.
Zum Beispiel – nur ein Beispiel jetzt – könnte ich bei der Zeile „Mein Spruch für dich“ folgendes reinschreiben:
Dein Dasein wurmt in jeder Weise,
du mutterfickendes Stück Scheiße!
Ja, das könnte ich schreiben. Und damit hätte ich jedes meiner Gefühle gegenüber dem Mädchen zum Ausdruck gebracht. Ich wäre dazu fähig. Ich bin überhaupt zu vielem fähig. Das ist der Vorteil, wenn die Gedanken frei sind, weil man keinen Charakter hat.
Neulich habe ich zu meiner Tante Trudl gesagt, dass ich nicht mit dem Mädchen spielen würde, weil das eine – ich sag’s jetzt nicht, was – wäre. Da hat mir Tante Trudl Zimmerarrest verpasst. Und ich habe ihr deshalb ins Gesicht gespuckt.
Du siehst, ich habe keinerlei Hemmungen.
Hoppla, jetzt habe ich wohl meine Geschichte als Kinderbuch selbst aus dem Rennen geschickt. Seltsam, wie schnell das geht ... naja, es sind ja auch schlimme Ausdrücke. Seit gestern verwende ich sie gar nicht mehr. Das ist aber nicht Tante Trudls Schuld.
Vorletzte Nacht sind meine Eltern wiedererschienen. Ich lag gerade in meinem Bett und konnte gar nicht einschlafen. Schatten huschten über die Wände und von fern war das sachte Läuten einer Kirchenglocke zu hören. Die Luft roch wie immer. Gesund.
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