Verlässt man den Großraum Los Angeles, wird es zunehmend ruhiger, und die Natur darf wieder übernehmen. Dieser Bundesstaat weist eine ungeheure geographische Vielfalt auf. Was es auch sein mag, Kalifornien hat es im Sortiment. Im Osten erstreckt sich die Bergkette der Sierra Nevada mit dem 4421 Meter hohen Mount Whitney, dem höchsten Berg der USA außerhalb von Alaska. Ein Superlativ, mal wieder. Und schön in die Westflanken eingearbeitet sind die berühmten Nationalparks Yosemite, Sequoia und Kings Canyon.
Zwischen Bergen und Meer liegt das Central Valley, Amerikas Obst- und Gemüsegarten, wo auch der kalifornische Wein gedeiht. Der fruchtbare Boden schenkt den Farmern des Tals reiche Ernten. Die Sonne gibt’s gratis, das Wasser hingegen muss teuer bezahlt werden. Wir fuhren an endlosen Orangenplantagen vorbei, die mit wohldosierten Tröpfchen bewässert wurden, und mussten der Versuchung widerstehen, unterwegs Orangen zu klauen, so verlockend war der Anblick der reifen Früchte zwischen den dunkelgrünen Blättern.
Was fehlt noch? Eine richtige Wüste. Kalifornien hat mit der Mojave Desert gleich mehrere Trümpfe auf Lager, denn ein Teil dieser Wüste, das Death Valley, ist die heißeste und trockenste Region Nordamerikas. Zudem liegt hier mit 86 Metern unter dem Meeresspiegel der tiefste Punkt der USA. Ohne Rekorde scheint es im Golden State nicht zu gehen.
Tal des Todes, dieser schaurige Name wurde durch eine Gruppe von Goldgräbern geprägt, die sich 1849 in dem Tal verirrte und wochenlang nicht herausfand. Der Tod schien ihnen sicher zu sein, da entdeckten sie endlich einen Pass, der aus der Hitzehölle herausführte. Auf der Passhöhe drehte sich eine Frau aus der Gruppe noch einmal um und rief: „Goodbye, Death Valley!“
Diese Story und unzählige andere Geschichten ließen einen bunten Teppich aus Legenden entstehen, die von der Vergangenheit und Gegenwart Kaliforniens erzählen. Kommen Sie mit auf eine spannende Entdeckungsreise durch das Land der Superlative!
Die Königin des Goldenen Tors – der Bau der Golden Gate Bridge
Keine wird mehr bewundert. Auf keine werden so oft die Objektive der Kameras gerichtet. Sie ist die Königin!
Zu ihrem strahlend roten Gewand trägt sie gerne einen Schleier aus feinster weißer Nebelwatte. Aber heute nicht. Heute zeigt sie ihr Antlitz unverhüllt.
Verzaubert von ihrer Schönheit und Eleganz bin ich hinter ihr her wie ein Paparazzo.
Als wir von Norden her über die US 101 in Richtung San Francisco rollen, schiebt sich vor uns in der Ferne der erste der roten Brückenpfeiler in den Himmel. Sofort bringe ich meine Kamera hinter der Windschutzscheibe in Position. Meine „Drive-through“-Audienz mit der Golden Gate Bridge, der großen alten Dame Kaliforniens, beginnt.
Viel zu bald kommt hinter dem ersten der zweite Brückenpfeiler in Sicht, noch weit entfernt und schemenhaft im Morgendunst, dann immer größer und klarer – und schon haben wir die Brücke überquert. Majestät hat uns ein huldvolles Lächeln geschenkt.
Doch der Paparazzo in mir ist noch nicht zufrieden. Hinter der Mautstation biegen wir rechts ab und fahren ein paar hundert Meter die Küste entlang, bis wir zu einem Parkplatz kommen. Hier sind die Überreste der alten Verteidigungsanlagen zu sehen, die „Batteries“. Aber wen interessieren alte Geschützstände, wenn sich die Golden Gate Bridge in Fotoschussweite über die türkisblauen Wellen des Goldenen Tors schwingt, der Einfahrt zur San Francisco Bay? Meine Kamera und ich beginnen augenblicklich damit, das hinreißende Motiv einzufangen.
Auf dem Rückweg zum Auto lenkt mich etwas ab. In den alten Mauern da vor mir blitzt eine gläserne Tür im Sonnenlicht. Sie wirkt hier so merkwürdig unpassend. Ich ziehe die Tür auf, trete ein – und stehe in einer Aufzugskabine. Auf einer Metallplatte an der linken Wand sind dicke runde Aluminiumknöpfe angebracht. Sie tragen jedoch keine Zahlen für Stockwerke, sondern Jahreszahlen. Ich bin in einer Zeitmaschine gelandet!
Sie glauben mir nicht? Ich weiß, die Zeit lässt sich nicht austricksen. Aber stellen Sie sich diesen Aufzug doch einfach vor und begleiten Sie mich auf meiner Zeitreise. Ich verspreche Ihnen, wir werden viel Interessantes erleben.
Eine Brücke über das Goldene Tor? Unmöglich!
Ich drücke den untersten Knopf mit der Jahreszahl 1921. In rasender Fahrt geht es zurück in die Zeit. Als die Tür sich öffnet, platze ich mitten in eine Versammlung, in der gerade eine erregte Diskussion stattfindet.
„Mit Verlaub, diese Entwürfe sind klobig und hässlich“, ruft ein stämmiger Mann mit einem vollgekritzelten Block in der Hand, der ihn als Vertreter der Presse ausweist. Mit seinem angenagten Bleistift zielt er auf eine Reihe von Bauzeichnungen, die an einer Stellwand hängen. „Eine Schande für unsere Stadt!“
„Gott hat uns diese Bucht mit ihrer außerordentlichen Schönheit geschenkt“, lässt sich die sanfte Stimme eines Pfarrers vernehmen. „Kein Menschenwerk sollte das Gotteswerk verschandeln!“
„Wir brauchen sowieso keine Brücke!“, schnauzt ein aufgeregter Mann, auf dessen kahlem Kopf Schweißperlen glänzen. „Seit Jahrzehnten bringt unsere Fährgesellschaft die Leute von Sausalito nach San Francisco und zurück, schnell, sicher und kostengünstig.“
„Sie sagen es“, stimmt ihm ein anderer zu. „Eine Brücke wäre alles, nur nicht sicher und kostengünstig. Denken Sie doch nur mal an die Stürme, die wir hier haben. Welche Brücke kann solch heftigen Böen standhalten? Und mit den Kosten würde sich die ganze Gegend bis an unser aller Lebensende verschulden.“
„Strauss“, ruft einer der Anwesenden von weiter hinten und streckt anklagend seinen Zeigefinger aus, „haben Sie etwa das Erdbeben vergessen? Wenn so etwas wieder passiert, bricht Ihre Brücke zusammen wie ein Kartenhaus. Ich habe vor fünfzehn Jahren alles verloren und weiß, wovon ich spreche.“
Der Angesprochene mit Namen Strauss, ein kleiner Mann mit akkuratem Seitenscheitel, schätzungsweise Anfang fünfzig, hört sich die Argumente höflich an. Gleichzeitig wirkt er ein wenig abwesend, so als sehe er etwas, das den anderen verborgen bleibt.
„Leute, es geht doch hier um unsere Zukunft, um Fortschritt und Entwicklung!“, mischt sich eine mahnende Stimme ein. Sie gehört einem elegant gekleideten Mann mit dunklem Anzug und Weste. „Ich bin von der Ford Motor Company, und ich sage euch, das Automobil ist die Zukunft. Und dafür brauchen wir Straßen und Brücken. Aber nicht diese da“, seine abwinkende Handbewegung schickt die Bauzeichnungen an der Wand bereits in den Papierkorb. „Strauss, machen Sie Ihre Hausaufgaben!“
Joseph Baermann Strauss, geboren 1870, hatte Wirtschaft und Ingenieurwesen studiert und leitete nun seine eigene, sehr erfolgreiche Brückenbaufirma. Mit der Strauss Bascule Bridge Company in Chicago, die auf Klappbrücken spezialisiert war, baute er hunderte von Brücken im ganzen Land. Doch nebenbei schrieb er Gedichte. Und ohne diese träumerische Seite wäre er vermutlich nie in der Lage gewesen, so hartnäckig die Vision einer Brücke über das Golden Gate zu verfolgen.
Strauss‘ Leidenschaft für Brücken war während seiner College-Zeit in Cincinnati, Ohio, entfacht worden, als er wegen einer Verletzung eine Weile im Krankenhaus liegen musste. Von seinem Bett aus konnte er die imposante Hängebrücke sehen, die über den Ohio River hinüber nach Covington, Kentucky, führte. Dieser Anblick sollte seine weitere Laufbahn bestimmen.
Im Jahr 1917 traf Strauss auf einer Handelsmesse mit Michael O’Shaughnessy zusammen, dem Stadtingenieur von San Francisco. O’Shaugnessy hatte eine wichtige Aufgabe: Er war verantwortlich für den Wiederaufbau der Infrastruktur nach dem verheerenden Erdbeben von 1906. Viele der Überlebenden waren ins Marin County nördlich der Meerenge gezogen, arbeiteten aber weiterhin in der Stadt. Eine Brücke war jetzt notwendiger denn je.
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