»Anne Lischka, immer noch ganz die hysterische Heilige.«
Sie schnappte nach Luft, drehte sich um und quetschte sich durch die Sträucher zurück auf den Weg.
»Immer noch besser als ein … ein Ehebrecher«, schrie sie außer sich. Wieder auf dem Weg rannte sie los. Mit letzter Kraft keuchte sie den steilen Wiesenpfad vor ihrem Haus hinauf. Ihre Waden brannten wie Feuer, sie zitterte immer noch am ganzen Körper. Obwohl sie allein im Haus war, schloss sie sich in ihrem Schlafzimmer ein, warf sich bäuchlings aufs Bett und schluchzte in ihr Kopfkissen. Mit der Zeit ließ die Anspannung nach. Sie lag noch ein bisschen still da, stand dann auf und ging unter die Dusche. Hinterher war ihre Haut krebsrot. Die Vorstellung, das Peeling habe jede Hautschuppe weggeschmirgelt, die mit Sven Kittel in Berührung gekommen war, gefiel ihr. Sie cremte sich dick mit ihrer Lieblingslotion ein, die so herrlich nach Jasmin und Bergamotte duftete, legte ein dezentes Makeup auf und zog sich ein Kleid an. Irgendwie war ihr nach Feiern zumute. Und sie hatte Hunger.
Das Beste an einem Sonntagnachmittag war, dass man einfach machen konnte, worauf man Lust hatte. Jedenfalls seit Papa und Mutter an der holländischen Grenze wohnten und nur an Weihnachten und Opas Geburtstag auftauchten. Papa konnte einen einfach nicht faul herumliegen sehen. Immer hatte er Vorschläge, was man stattdessen Sinnvolles tun könnte. Echt nervtötend. Auch Oma Hilde hatte den Garten früher nicht als Entspannungsoase betrachtet, sondern als Anbaufläche für diverse Gemüse-, Kräuter- und Obstsorten. Besonders gemütlich war es nicht gewesen, im Liegestuhl zu liegen, während sie nebenan in den Beeten hantiert und immer betont hatte, wie viel Arbeit so ein Garten mache.
Mit Opa allein war alles viel entspannter.
Jetzt durfte auch mal ein Unkraut wachsen, angebaut wurde längst nicht mehr so viel. Und wenn Opa Kirschen vom unteren Ende des Gartens, wo der Baum stand, mit der Dampflok und den Schüttgutwaggons seiner Gartenbahn nach oben transportierte, war das ein Riesenspaß – genau wie zu Kindertagen.
Anne holte den Liegestuhl aus dem Schuppen, wischte den Winterstaub ab und platzierte sich dann in die Sonne. Opa Willi war auch schon vom Mittagessen zurück. Er hatte wieder eines seiner karierten Flanellhemden und die Arbeitshose mit den obligatorischen Hosenträgern angezogen.
»Stört dich das, wenn ich mal nach meinen Gleisen gucke, Mädel?«
»Überhaupt nicht, mach nur. Lässt du heute noch einen Zug fahren?«
»Erst mal sehen, ob alles funktioniert. Nicht, dass irgendein Mäuschen über den Winter wieder mein Kabel angefressen hat.« Opa lachte. Die Garteneisenbahn war sein großes Hobby. Inzwischen nur noch zum Zeitvertreib, früher hatte er als Werkzeugmacher bei einer Firma gearbeitet, die solches Männerspielzeug herstellte.
Anne war mit der Modelleisenbahn aufgewachsen. Im Gegensatz zu ihrem Vater hatte sie sich schon als Kind von Opa für die kleinen Züge begeistern lassen. Was eine Ludmilla war, eine 01 oder eine V 100 – sie konnte schon im Grundschulalter viele Lokomotivtypen auseinanderhalten. Auch wenn ihr auf der echten Bahnstrecke eine begegnete. Die kleinen Modelle waren ja absolut detailgetreu nachgebaut. Willis Schrullerei – so hatte Oma Hilde das Hobby ihres Mannes genannt und dabei meist liebevoll mit den Augen gezwinkert.
Später genossen sie das erste Mal in diesem Jahr den Kaffee draußen am Gartentisch.
»Ivi hat jetzt auch so eine Höllenmaschine mit Kaffeekapseln. Schmeckt ja gut – ist aber ziemlich teuer.«
»Und der ganze Blech-Müll von den Näpfchen, überleg mal. Unsere Reste beim Kaffeekochen werden wenigstens zu Kompost. Ach, Mädel, wenn wir gerade so schön sitzen: Ich wollte dich was fragen.«
»Was denn?«
»Könntest du eventuell im Mai zwei oder drei Tage Urlaub nehmen? Ich habe eine Einladung zu einem Treffen nach Prag bekommen und würde gerne hin. Es findet in einem schönen Hotel statt mit einem tollen Besichtigungsprogramm für Begleitpersonen. Ich bezahle alles, darum musst du dir keine Gedanken machen.«
Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Opa – eine mehrtätige Reise? Ins Ausland? Seit wann denn das?
»Ist es wohl ein Modellbahnertreffen?«, fragte sie vorsichtig. Sie hatte ihn schon nach Dresden auf die Ausstellung Erlebnis Modellbahn begleitet. Da waren sie aber am selben Tag hin und zurück gefahren.
»Nein, nein, es ist – wie soll ich das erklären? Warte, ich hole dir den Prospekt.« Opa verschwand im Haus und kehrte kurz darauf mit einem großen braunen Briefumschlag zurück.
»Schau, hier ist das Programm für Begleitpersonen. Man muss es aber nicht mitmachen. Du könntest auch auf eigene Faust Prag erkunden, wenn dir das lieber ist.«
Führung durch die Altstadt mit Besichtigung des jüdischen Viertels, Ausflüge nach Theresienstadt und Schloss Štiřin. Empfang im Milíč-Haus.
Weitere Programmpunkte werden nach Wunsch der Gäste zusammengestellt: Schwarzlichttheater, Kafka-Museum, typisch tschechische Kneipe und mehr. Wir sprechen: Deutsch, Tschechisch, Ivrit, Englisch.
Der Veranstalter hieß Cafe Setkání – Verein für kulturelle Begegnung.
Mysteriös. Wie kam Opa denn zu so etwas?
»Und was machst du in Prag, während ich auf Besichtigungstour gehe?«
»Ich treffe mich mit Leuten. Mit alten Freunden aus meiner Jugend. Wir haben auch ein kleines Programm. Zu den Schlössern fahren wir mit euch gemeinsam.«
»Aha. Warum trefft ihr euch ausgerechnet in Prag?«
»Weil wir uns dort auch kennengelernt haben. Es ist eine uralte Geschichte, weißt du. Ich erzähle dir vorher noch alles. Aber – hättest du denn grundsätzlich Lust?«
Sie überlegte. Bei dem Gedanken, dass Opa ohne sie vermutlich auf eigene Faust mit der Bahn – oder schlimmer noch: mit dem Auto – nach Prag fahren könnte, war es ihr nicht wohl. Zu lang, zu gefährlich, zu anstrengend für den alten Herrn.
Und warum eigentlich nicht? Jeden Abend träumte sie sich in ferne Länder – da konnte sie doch schon mal mit einer echten Pragreise anfangen.
»Ich spreche morgen mit Renate, ob ich Urlaub nehmen kann. Momentan ist viel zu tun, du weißt ja.«
Opa Willi strahlte. »Ich glaube, der Tapetenwechsel würde dir richtig guttun.« Er stand auf und widmete sich wieder seiner Gartenbahn.
Ehrlich gesagt, war sie ziemlich neugierig auf »die uralten Geschichten«. Mit wem wollte er sich dort in Prag wohl treffen? Doch ihn jetzt danach auszufragen, würde erfahrungsgemäß nicht klappen. Opa konnte ganz schön kurz angebunden sein, wenn er nicht in Erzählstimmung war. Er untersuchte gerade mit der Taschenlampe den großen Tunnel und schob dann mit einem Handfeger Laub heraus. Offensichtlich hatte wieder ein Igel darin überwintert.
Später ließen sie noch probeweise den roten Schienenbus durch den Garten rattern. Alles funktionierte bestens. Die Mäuse hatten letzten Winter vermutlich schmackhafteres Futter gefunden als Opas Kabel.
4
Der Kleiber rannte eifrig um den Stamm der alten Buche herum, klopfte und pickte hier und da, schien auch etwas im Schnabel zu halten und eilte dann den Stamm hinauf. Aha, da oben hatte er seine Nisthöhle. Aufgeregtes Gezwitscher folgte.
Martin lehnte sich aus dem kleinen Dachgaubenfenster. Wie warm sich die Sonnenstrahlen schon früh morgens auf der Haut anfühlten! Das erinnerte ihn an alte Zeiten. Mit nacktem Oberkörper am Fels kleben und den nächsten Kletterschritt planen. Knackig braun wurde man dabei ganz automatisch. Jetzt betonte Bräune nur die hässlichen weiß-rosa Linien. Narbengewebe mochte UV-Strahlen nicht, also war ab sofort wieder Sonnenschutzfaktor 50 angesagt. Er lenkte seinen Blick wieder in den Garten, weg von seinem rechten Unterarm.
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