»Wie wäre es mit einer Tönung, vielleicht in so einem Kastanienrot? Und ungefähr drei Zentimeter abschneiden?«
»Konstruktive Idee. Allerdings würde ich dir lieber hellere Strähnchen in deiner natürlichen Braunnuance verpassen. Das lässt deinen sanften Bambi-Blick strahlen und macht dich nicht so käsig.«
»Du bist hier die Expertin.«
Ivi war wirklich eine Meisterin ihres Fachs. Zusammen bestaunten sie zwei Stunden später die Runderneuerung im Spiegel.
»Schade, dass dich heute nur noch dein Opa zu sehen bekommt. Wir sollten mal zusammen zu einer Singleparty gehen und dir endlich einen Mann aussuchen«, schlug ihre Freundin kichernd vor.
»Was sagt denn Torsten dazu, wenn du mit mir auf eine Singleparty gehst?«
»Ach, der hätte vollstes Verständnis, dass ich dich endlich unter die Haube bringen muss.«
Ivi war seit zwei Jahren glücklich verheiratet. Mit Torsten Lohmann, dem ältesten Sohn des Bürgermeisters, der von der Art her genau das Gegenteil seines Vaters war.
»Irgendwann läuft mir auch ohne Singleparty einer über den Weg.«
»Hier in Eichberg? Das glaubst du doch selbst nicht. Die sind alle vergeben oder ätzend.«
»Ich finde mein Leben ohne Mann derzeit eigentlich gar nicht so übel.«
Sie meinte das in diesem Moment wirklich ernst.
Die Straßenlampen verbreiteten auf der Heimfahrt schon ihr gelbes, tranfunzeliges Licht. Lohmann hatte auf energiesparende Modelle umstellen lassen. Das kam auf die Dauer billiger für die Gemeinde. Aber die Beleuchtung war schrecklich. Während sie keuchend ihr Rad den Berg hinaufschob, nahm sie sich fest vor, ab sofort an ihrer Kondition zu arbeiten.
Tatsächlich lag eine Ladung zur Gemeinderatssitzung auf der Anrichte. Genau, wie Opa Willi es prophezeit hatte. Ausgerechnet an einem Samstag um dreizehn Uhr im Pfarrhaus. Was für eine blöde Uhrzeit. Das würde knapp werden.
Endlich zog der Frühling ins Land. Fast jeden Tag schien die Sonne. Die wenigen warmen Regenschauer ließen das Grün in der Natur geradezu explodieren. Anne schien es, dass die Menschen viel fröhlicher und umgänglicher waren als während der Wintermonate. Sogar die Kinder quengelten weniger und tobten mit Riesenspaß draußen auf dem Spielplatz. Luis hatte sich in der kurzen Zeit schon prima eingelebt. Auch Max machte jetzt mit. Wenn man ihn ansprach, gab er Antwort. Von selbst sagte er allerdings so gut wie nie etwas. Anne hatte beobachtet, dass er besonders gerne Bilderbücher anschaute. Am liebsten holte er sich in der Mittagsruhe die Bände von Wieso? Weshalb? Warum?.
Nachmittags, als die Kinder im Sandkasten spielten, meinte Renate leise zu ihr: »Stille Wasser sind tief. Wusstest du, dass unser Max lesen kann?«
»Was, mit fünf? Wie hast du das gemerkt?«
»Sina hat es mir verraten. Max hat sie nach den Buchstaben gefragt und sich das Lesen im Grunde selbst beigebracht.«
»Ach du große Schande, der kleine Bursche ist …?«
»Ziemlich intelligent, Anne. Und ein kleines bisschen autistisch veranlagt, wenn du mich fragst.«
»Seine Eltern haben noch nichts gemerkt?«
»Sieht nicht so aus. Sina betrachtet es als ihr Geheimnis, dass ihr Bruder lesen kann. Wir sollten mal einen Test mit Max machen. Wer weiß, was er sonst noch für Fähigkeiten hat. Vielleicht wäre er in der Schule besser aufgehoben. Wenn du einverstanden bist, gehe ich mal die üblichen Bögen mit ihm durch.«
»Gut, ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«
»Ich auch.«
Renates langjährige Erfahrung als Kinderpflegerin waren von unschätzbarem Wert. Besonders, wenn ein Kind nicht in die gängigen Normen von Entwicklungskurven und Schulreife einzuordnen war. Das kam in den letzten Jahren ein paarmal vor. Aber diese Kinder hatten sich nicht selbst das Lesen beigebracht, sondern besonderer Förderung bedurft.
2
Martin von Stein parkte den VW-Bus in der Einfahrt eines Feldweges. Von hier aus hatte man die schönste Aussicht auf Eichberg. Er stieg aus, ging ein paar Schritte und lehnte sich dann mit verschränkten Armen an den Stamm eines großen Baumes, der hier einsam auf der Anhöhe stand. Eine wilde Kirsche. In den mit weißen Blüten besetzten Ästen über ihm summte und brummte es leise. Ein wunderbarer blauer Frühlingshimmel spannte sich über den hügeligen Horizont. Vor seinen Füßen steckten leuchtend gelbe Löwenzahnblüten ihre Köpfe aus dem Gras. Pappelstöck nannte man die bei ihm zu Hause. Martin lachte in sich hinein. Dieses Wort kannte hier garantiert niemand.
Eichberg breitete sich an dem Hang gegenüber aus. Der schwarzgeschieferte Zwiebelturm lugte zwischen den Häusern heraus. Das schräg neben der Kirche liegende Pfarrhaus war nicht auszumachen, nur ein grünes Knäuel hoher Laubbäume zeigte an, wo sich der dazugehörende Garten befand. Den Roten Ochsen an der Hauptstraße konnte man gut an seinen rotbraunen Ziegeln erkennen. Er stach aus der sonst für diese Gegend typischen schiefergrau-weißen Fachwerkidylle heraus. Das blau gestrichene kleine Gebäude unten am Dorfeingang war der Kindergarten. Blaubärschloss, witziger Name. Die Leiterin, Herrn Lischkas Enkelin, würde er heute Mittag auf der Sitzung treffen. Bisher kannte er nur die Männer und Frauen des vierköpfigen Gemeindekirchenrats näher. Zu Willi Lischka, dem Vorsitzenden, hatte er sofort einen Draht gefunden, obwohl der sein Großvater sein könnte. Überhaupt war die Gemeinde ziemlich überaltert.
Keiner seiner Kollegen aus dem Kirchenkreis hatte sich nach der 25-Prozent-Stelle in Eichberg gedrängt. Seit etlichen Jahren war nur noch ein Gottesdienst pro Monat gehalten und Beerdigungen, Trauungen oder Taufen unter den Kollegen aufgeteilt worden. Im Vorjahr hatte es fünfzehn Beisetzungen gegeben, aber keine einzige Hochzeit oder Taufe.
Seit diesem März hatte er alle Amtshandlungen übernommen und wieder jeden Sonntag einen Gottesdienst gehalten. Die Besucherzahl war von sechzehn auf regelmäßig über zwanzig Personen angestiegen. Immerhin, eine Steigerung um mehr als dreißig Prozent. Martin schmunzelte wieder.
»Ich hoffe, Sie wissen, auf was Sie sich da einlassen«, hatte der Superintendent ihn gewarnt und dabei an seinem weißen Vollbart gezupft, »Eichberg ist ein schwieriges Pflaster. Es gibt so gut wie kein Gemeindeleben mehr. Sie können das nicht mit Ihrer fränkischen Heimat vergleichen. Erwarten Sie nicht zu viel.«
Genau deshalb hatte er sich ja auf diese Stelle beworben, denn er war nicht Pfarrer geworden, um irgendwo bis zur Rente eine schrumpfende Herde Gemeindeschäflein zu verwalten.
Außerdem eignete sich das Eichberger Pfarrhaus bestens für seine Pläne. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Mitglieder des Gemeindekirchenrates auf seinen Vorschlag für die Belebung des alten Pfarrhauses so positiv reagieren würden: Sie waren von Anfang an Feuer und Flamme.
»Jetzt müssen wir nur noch die anderen Eichberger überzeugen. Wie das klappen soll, weiß ich nicht. Danke, dass du mir heute Mittag die richtigen Worte schenken wirst. Ich vertrau dir«, betete er leise. Dann schickte er in Gedanken einen Segenswunsch zu den Eichbergern hinüber.
Dieser Ort war viel mehr als eine Ansammlung von Gebäuden. Es ging um die Menschen hinter den Mauern. Würde er einen Weg zu ihren Herzen finden? Auch das lag nicht in seiner Hand und war letztlich Chefsache – oder altmodisch ausgedrückt: Gottes Gnade.
Mit diesen Gedanken kehrte Martin zu seinem dunkelblauen VW-Bus zurück, stieg ein und fuhr ins Tal hinunter.
Noch eine knappe Stunde bis zum Termin. Martin hatte alle Stühle, die er im Haus finden konnte, in das große Erdgeschosszimmer auf der Gartenseite gestellt. Hoffentlich reichten sie aus.
Draußen bewegte sich etwas. Er ging ans Fenster. Herr Lischka stand nachdenklich vor dem verwilderten Hochbeet. Martin eilte zu ihm hinaus.
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