»Es betrifft auch deinen Kindergarten. Bitte frag nicht weiter und sprich auch vorerst mit niemandem darüber. Die Eichberger Buschtrommeln sollten besser nicht mit wilden Spekulationen in Gang gesetzt werden.«
»Muss ich mir deshalb Sorgen machen?«
»Nein, im Gegenteil. Du wirst schon sehen. Übrigens kannst du bei der Sitzung gleich den neuen Pfarrer kennenlernen. Ist ein patenter Kerl.«
Immerhin hatte sie es geschafft, Opa Willi an diesem Abend von weiteren Fragen nach Sven Kittel abzulenken. In ihrem Kopf lief jedoch die ganze Zeit ein Hintergrundprogramm von Bildern und Erinnerungen ab.
Sie auf dem Rücksitz von Svens Motorrad, die Arme um seinen Bauch geschlungen, das Gesicht seitlich an seinen Rücken geschmiegt. Fahrtwind, der nach Heu duftete. Ihr geheimes Plätzchen, unten am Teich. Svens warme Hand auf ihrem Rücken unter dem Pullover. Näher, immer näher, bis es nicht mehr näher ging.
Wo war nur die Stopp-Taste?
Später kuschelte sie sich unter ihre Bettdecke und nahm das oberste Buch von dem Stapel auf ihrem Nachttisch. Lesen half ihr eigentlich immer, um abzuschalten. Sie vertiefte sich in Work and Travel in Australien und Neuseeland. Verschwinden, einfach verschwinden. Mal eine Zeitlang ganz woanders leben und was anderes machen. Äpfel oder Weintrauben pflücken statt verklebte Kindermünder abwischen. Am besten einfach nur am Ende der Welt im warmen Sand sitzen und dem Meeresrauschen zuhören.
Sie war irgendwann in einen tiefen Schlaf hinübergeglitten. Das Licht ging um elf von selbst aus. Opa Willi hatte eine Zeitschaltuhr eingebaut, damit die Lampe nicht mehr die ganze Nacht brannte, wenn sie beim Lesen oder Musikhören einschlief.
Morgens saß Anne auf dem Bettrand. Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden. Sie hob es auf und strich sorgfältig die zerknitterten Seiten glatt. Heute war so ein Tag, an dem sie sich am liebsten wieder unter die warme Decke verkriechen würde. Sie war spät dran.
»Los, raff dich endlich auf«, feuerte sie sich an. Schließlich gelang es ihr doch noch, pünktlich aus dem Haus zu gehen.
Drei Kinder standen schon um kurz vor sieben mit einer Oma vor dem Eingang. Ihre Mütter waren längst auf dem Weg in die Arbeit. Sie beneidete diese Frauen nicht. Die jonglierten jeden Tag Beruf, Haushalt und Kinder – das waren in Annes Augen echte Heldinnen des Alltags.
Der Vormittag verging erfreulich schnell. Um kurz nach drei saß sie auf einem Korbstuhl in Ivis Lockenladen.
»Willst du einen Cappuccino oder lieber Latte macchiato caramel?«
Ivi besaß seit neuestem eine Kapsel-Kaffeemaschine, mit der man allerlei Heißgetränke zaubern konnte.
»Eine Latte, bitte.«
»Nehm ich auch. Die schmeckt sündhaft gut. Wenn nur die Kapseln nicht so teuer wären. Überleg mal: eine Packung kostet 5,39 Euro. Um das nach allen Kosten zusätzlich übrig zu haben, muss ich zweimal Waschen und Legen machen. Oder drei Maschinenhaarschnitte.«
»Hast du schon mal überlegt, deine Preise ein wenig zu erhöhen?«
»Geht nicht. Dann verliere ich meine Hausbesuche an die Rasende Schere.« Das war eine mobile Friseurin aus dem Nachbarort, die keinen Salon betrieb und nur auf den Dörfern herumfuhr. Ernsthafte Konkurrenz für Ivi, wenn es mehr auf den Preis als auf die Frisur ankam.
»Also dann: hoch die Gläser. Auf uns.«
Sie nippten vorsichtig, die Latte war höllisch heiß.
»So, und jetzt erzähl mal. Ich bin Svens Angetrauter nämlich noch nicht persönlich begegnet und platze vor Neugier.«
»Sie heißt Jutta und spricht schwäbisch. Hört sich lustig an. Auch wenn sie hochdeutsch redet, klingt der Dialekt deutlich heraus. Ich finde sie auf den ersten Blick ganz sympathisch.«
»Wie sieht sie denn aus?«
»Dunkler Typ, schwarze, kurze Haare, Brille. Jeans, Pulli. Nicht besonders modisch. Sie ist größer als ich und ein wenig … fülliger.«
»Also mit einem Satz: langweilig, aber nett.«
»Sie ist OP-Schwester. Momentan auf Abruf, wenn im Klinikum Personalengpass ist. Die haben ihr eine feste Stelle versprochen, irgendwann, wenn was frei wird.«
»Und wie geht es dir damit, Sven und Jutta im trauten Familienglück zu sehen, Anne?«
Sie konnte sich darauf verlassen, dass Ivi ihre Antwort verstehen und streng vertraulich behandeln würde.
»Gar nicht, Ivi. Irgendwie geht es mir – gar nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Die Sache mit Sven ist in meinem Kopf längst abgehakt. Trotzdem muss ich jetzt immer an die alten Zeiten denken. Komischerweise nur an die schönen Momente. Schmetterlinge im Bauch und so. Und wenn er in meine Nähe kommt, dann …«
Sie überlegte, wie dieses seltsame Gefühl zu beschreiben war.
»… wird es dir um den Bauchnabel herum ganz anders?«
»Ja, blöd.«
»Ich kenn das. Deswegen bin ich damals von Harald nicht losgekommen. Bei jedem Treffen wollte ich mit ihm Schluss machen, nachdem ich begriffen hatte, dass er sich wegen mir niemals scheiden lässt. Immer wieder hat er mich rumgekriegt. Wegen diesem blöden Bauchnabelschmetterlingsgefühl.«
»Aber irgendwann hast du ihn ja doch in die Wüste geschickt.«
Sie waren seit Kindertagen befreundet und hatten schon viele Höhen und Tiefen miteinander durchgestanden. Die Monate, bis Ivi diesem schleimigen Kerl endlich den Laufpass gab, zählten definitiv zu den Tiefen.
»Anne, eines habe ich dadurch gelernt: Man muss wissen, was einem guttut und was nicht. Langfristig, meine ich. Entweder erkämpft man sich den EhefrauenStatus oder man geht gleich auf Distanz. Dazwischen gibt es nichts Akzeptables. Das habe ich inzwischen begriffen.«
»Sehe ich genauso.«
»Also denk an mich, wenn Großwildjäger Sven wieder auf der Pirsch ist und leichte Beute wittert. Zum Beispiel dich.«
»Ich glaube nicht, dass er noch so ist. Er hat sich verändert.«
»Für mich wäre das Weltwunder Nummer acht. Du, ich will nicht, dass der Kerl dir wieder weh tut!«
Die Latte war inzwischen auf angenehme Trinktemperatur abgekühlt. Sie nahm einen großen Schluck und ließ den karamelligen Nachgeschmack auf der Zunge zergehen.
»Übrigens – der neue Pfarrer heißt Martin von Stein.«
»Der ist aber nicht aus der Gegend. Von Stein? Klingt nach alter Knacker, oder?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sieht man ihn mal bei den Bauarbeiten. Opa Willi hat gemeint, du sollst nur nicht direkt vor dem Tor parken.«
»Was bauen die denn dort?«
»Sie renovieren ein bisschen. Der Pfarrer zieht her.«
»Echt? Nach Eichberg?«
»Mehr weiß ich leider auch nicht.«
Ihre Freundin stand auf.
»Na gut, dann lass uns schauen, was wir mit deinen Haaren machen.«
Sie legte einige Frisurenmagazine und Farbkarten auf den kleinen Tisch zwischen die leeren Latte-Gläser.
Anne blätterte in einem der Magazine.
»Du weißt ja, ein Zopf muss möglich sein. Wegen der Arbeit. Vielleicht so?« Sie zeigte auf ein Schwarz-weiß-Foto im Retro-Stil.
Ivi warf den Kopf in den Nacken und brach in lautes Lachen aus. »Die ewige Sophie Scholl. Da kannst du gleich so wieder heimgehen. Das ist im Grunde deine jetzige Frisur mit extremem Seitenscheitel und etwas Föhnschaum drin.«
Als sie vor Jahren miteinander den Kinofilm über die Weiße Rose gesehen hatten, war Ivi sofort Annes Ähnlichkeit mit der Hauptdarstellerin aufgefallen. Seither neckte Ivi sie ab und zu damit.
»Was ist daran so schlimm, wie Sophie Scholl auszusehen?«
»Nichts, wenn man 1943 lebt – ich stelle mir unter Runderneuerung nur etwas Großartigeres vor: rote Strähnen, Raspelschnitt, Undercut, Platinblond.«
Sie prusteten beide los. Mit platinblondem Raspelschnitt würden ihre Kita-Kinder sie vermutlich gar nicht mehr erkennen.
Schließlich tippte sie mit dem Finger auf ein anderes Frisurenfoto.
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