»Allergien? Besonderheiten? Probleme, über die wir hier Bescheid wissen sollten?«
»Nicht, dass ich wüsste. In der letzten Kita gab es keine Probleme mit den beiden.«
»Okay. Gut zu wissen. Welche Betreuungszeiten möchtest du buchen? Es gibt zwei Möglichkeiten: vormittags zwischen sieben und dreizehn Uhr und ganztags zwischen sieben und siebzehn Uhr. Mittagessen kochen wir selber. Zusammen mit den Kindern – wir achten auf gesunde Ernährung.«
»Länger als bis siebzehn Uhr geht es bei euch nicht?«
»Nein, der Bedarf ist nicht da. Die meisten Kinder werden schon eher abgeholt. Wir haben ja nur elf im Kindergarten und zwei, die nach Schulende kommen. Wenn das ein Problem für euch ist, müsst ihr in der Stadt nach Plätzen schauen.«
Sven überlegte kurz.
»Wenn wir unsere Tochter nicht in den Schulhort geben, sondern auch zu dir, könnte sie die Jungs nachmittags mit nach Hause nehmen. Dann wären sie maximal zwei Stunden alleine, bis ich von der Arbeit komme. Das gilt aber nur für Tage, an denen Jutta Spätschicht hat. Falls sie den Job in der Klinik überhaupt bekommt. Sie ist gerade beim Vorstellungsgespräch.«
»Wie alt ist deine Tochter?«
»Sina wird – zwölf?«
»Natürlich, dumme Frage. Fünfte oder sechste Klasse?«
»Fünfte, Gymnasium. Keine Allergien, keine Besonderheiten.«
»Das genaue Geburtsdatum bitte.«
»18.6.2004.«
Anne trug alle Daten langsam und sorgfältig ein. Ihre Hand mit dem Stift zitterte. Also war Sina tatsächlich schon im Juni geboren worden. Dann schob sie den Bogen zu Sven hinüber.
»Den Rest bitte zusammen mit deiner Frau ausfüllen. Auf der Rückseite steht, was es kostet und wohin man die Beiträge überweisen soll. Die Impfbücher würde ich gerne mal sehen. Es reicht, wenn ihr sie mit dem Formular zusammen am ersten Tag mitbringt.«
»Geht es gleich ab morgen?«
»Natürlich.«
»Dann kommt Jutta früh mit den Jungs und mittags mit Sina her?«
»Gerne. Wäre gut, wenn sie bis 8 Uhr da sind. Wir fangen immer gemeinsam mit einem Morgenkreis an.«
Anne stand auf, auch Sven erhob sich langsam.
»Du bist nicht mehr bei der Bundeswehr?«
»Nein, ich arbeite jetzt wieder bei BMW Müller. Als Werkstattleiter. Hab’ beim Bund die Meisterprüfung gemacht.«
»Klingt gut.«
»Ja. Na dann – danke, Anneli.«
»Bitte sag nicht mehr Anneli zu mir. Kein Mensch in Eichberg nennt mich noch so. Die alte Stracke ist gestorben und Anne Moosmann weggezogen.«
Anneli und Annemo waren Frau Strackes Erfindung, um die beiden Annes in ihrer Grundschulklasse auseinander zu halten.
Bevor Sven die Bürotür öffnete, drehte er sich unvermittelt noch einmal um. Er stand jetzt ganz nahe vor ihr. Gefährlich nahe.
»Für mich wirst du immer das Anneli bleiben. Nur dass du das weißt«, sagte er leise.
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Schnell drängte sie sich an Sven vorbei hinaus auf den Flur.
»Geh bitte schon mal rüber in die Gruppe. Ich komme gleich«, rief sie ihm über die Schulter zu.
Diesmal rettete sie sich nicht in den Abstellraum, sondern in die Mitarbeiter-Toilette. Sie drehte den Wasserhahn auf kalt, machte einige Papierhandtücher nass und drückte sie sich auf das Gesicht.
Gut, dass sie in der Arbeit nie Make-up trug, das wäre jetzt gehörig verschmiert. Nachdem die erfrischende Wirkung nachgelassen hatte, warf sie den nassen Papierklumpen in den Abfallkorb. Dann schaute sie in den Spiegel. Die Röte war bis auf zwei Stellen an den Wangen verschwunden. Sie zog den Zopfgummi von ihrem Pferdeschwanz, strich die Haare nach hinten und band sie wieder straff zusammen.
»Du bist Anne!«, sagte sie entschlossen zu ihrem Spiegelbild, bevor sie sich auf den Weg in den Gruppenraum machte.
Renate und die Praktikantin sangen gerade mit den Kindern das neue Frühlingslied. Sie standen alle im Kreis und machten begeistert die dazugehörigen Bewegungen und Geräusche mit. Luis hatte offensichtlich großen Spaß daran, wie ein Frosch zu quaken oder wie eine Ziege zu meckern. Max stand mit gesenktem Blick still da. Vielleicht war er ja nur schüchtern.
Sven hatte sich mit dem Rücken zum Fenster gestellt, die Arme verschränkt. Sein Gesicht war im Gegenlicht nicht zu erkennen.
Nach der letzten Liedstrophe sagte er: »Max, Luis, jetzt gehen wir nach Hause und schauen mal, ob die Mama schon wieder da ist.«
»Nein, will dableiben«, quengelte Luis und setzte sich demonstrativ auf einen Stuhl.
Anne ging vor Luis in die Hocke. »Morgen darfst du wiederkommen und den ganzen Tag mit uns spielen. Weißt du, wir gehen auch alle bald nach Hause.«
Sven kam mit Luis’ Jacke in der Hand zu ihnen. Max stand bereits fertig angezogen neben der Tür vor einem Lernposter mit Buchstaben und Tieren, das dort an der Wand hing.
Inzwischen betraten noch zwei andere Mütter den Raum, um ihre Kinder abzuholen. Daraufhin ließ sich auch Luis widerstandslos in die Jacke helfen und fasste nach der Hand seines Vaters.
»Tschüss, bis zum nächsten Mal – Anne.«
Sie nickte Sven zu.
Spätestens in einer Stunde würden alle Kinder abgeholt sein.
Dann war endlich Feierabend.
»Luis und Max kommen schon ab morgen? Ganztags?«, fragte Renate.
»Ja. Nachmittags kommt dann noch ihre Schwester. Sina. Fünfte Klasse.«
»Toll, drei Neue. Da wird der Lohmann Gift und Galle spucken«, lachte Renate und rieb sich die Hände.
Anne schmunzelte in sich hinein. Bürgermeister Lohmann mit seiner sauertöpfischen Miene. Er spekulierte schon seit Längerem darauf, die Kita wegen Unterschreitung der Mindestzahl schließen zu können. Diesen Klotz am Bein, der die Gemeindefinanzen unverhältnismäßig in den Abgrund zieht, wie er regelmäßig betonte. Bisher waren ihre Arbeitsplätze immer haarscharf gerettet worden. Renate hatte nicht mehr lange bis zur Rente. Aber für sie selbst war es nicht gerade eine lustige Vorstellung, sich einen anderen Arbeitsplatz suchen zu müssen.
»Renate, wenn du magst, kannst du schon gehen. Den Rest schaffe ich alleine.«
»Du bist ein Schatz. Ich muss heute noch in den Megakauf fahren. Hab nichts mehr zum Essen daheim, aber zwei hungrige Männer. Also, mach’s gut, bis morgen.«
Wenig später waren alle Kinder abgeholt und die Putzfrau eingetroffen. Endlich Feierabend.
Anne fuhr, so oft es ging, mit dem Fahrrad in die Arbeit. Ein großer Vorteil, wenn man den Arbeitsplatz am Wohnort hatte. Etliche Eichberger mussten jeden Tag weite Strecken zurücklegen. In die nächste Stadt waren es 21 Kilometer. Wer einen Facharzt brauchte, eine höhere Schule besuchen oder im Discounter einkaufen wollte, hatte keine andere Möglichkeit. Grund- und Regelschule, ein kleiner Nahkauf sowie eine Landarztpraxis befanden sich im nächsten Ort. Aber auch dorthin musste man acht Kilometer fahren. Der Linienverkehr war auf drei Verbindungen an Werktagen eingedampft worden. Eigentlich nutzten nur noch Schüler den Bus. In Eichberg leben ohne Auto? Schwierig.
Früher war hier alles anders, dachte sie, als sie die Hauptstraße mit den krummen Fachwerkhäusern entlangradelte. Im Schaufenster des Bäckerladens hingen jetzt normale Gardinen, davor stand eine Milchkanne mit angestaubten Sonnenblumen aus Kunststoff. Wie hatte sie diesen Laden geliebt! Dort roch es so lecker nach frischem Brot und je nachdem, vor welchem Regal man sich in dem kleinen Verkaufsraum befand, zusätzlich nach Waschpulver oder Sauerkraut. Sie hatte diese seltsamen Düfte noch in der Nase, auch wenn das Geschäft schon seit vielen Jahren geschlossen war. Den Roten Ochsen gegenüber gab es noch; ihre Metzgerei hatten die Wirtsleute aber schon längst aufgegeben und den Ladenraum vermietet. Dort brannte Licht. Ivi war noch da.
Anne bremste, stieg ab und lehnte das Fahrrad gegen die Hauswand. Ein neuer Haarschnitt war längst überfällig. Ihre Freundin kam gerade aus der Tür, das Licht war jetzt aus.
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