Er wusste natürlich, dass sie zu Ester hielt, aber trotzdem. Früher hatte er auch über Lise eine gewisse Macht ausgeübt. In den alten Tagen, als er im Mittelpunkt der Clique gestanden hatte. Im Grunde hatte er über alle Macht gehabt. Aber was war dann eigentlich passiert? Was passierte hier mit ihm? Er drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Dieses Mal würde er nicht aufgeben, verdammt. Er warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus. Dann donnerte er mit der Faust gegen die Messingplatte mit den Klingelknöpfen.
Seine Fingerknöchel schmerzten. Aus einer kleinen Wunde sickerte Blut. Mehrere Klingeln waren ruiniert. Er zog an zweien und riss daran, bis sie nur noch an ihren roten und schwarzen Leitungen hingen. »Das hast du nun davon, du blöde Kuh!«, brüllte er, dann schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch, drehte sich um und lief zitternd vor Wut und Kälte die Straße hinunter.
Die nächste Nachbarin der Ermordeten hieß Rakel Mandal. Sie war eine ältere Dame mit grauen Dauerwellen und einem zu rosa Lippenstift auf ihren schmalen Lippen. Durch die dünne Haut ihrer Wangen schimmerten lila Adern. Sie sah durch den Türspalt zu, wie Cato Isaksen aus Ester Synnøve Lønns Wohnung kam.
Die Kommissare hatten sich nur nach möglichen neuen Beweismitteln erkundigen wollen. Die Spurensicherung war noch immer am Werk. Roger Høibakk war geblieben, um einige Details zu klären.
Cato Isaksen nickte Rakel Mandal zu und bedeutete ihr, die Tür zu öffnen. »Guten Tag«, sagte er. »Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen, wenn das möglich ist.«
Sofort riss die Frau die Tür weit auf. »Kommen Sie herein«, sagte sie hektisch. »Kommen Sie doch einfach herein. Ich sehe ja, dass Sie wieder in ihrer Wohnung waren. Es ist einfach so grauenhaft. Ich kann es fast nicht glauben.«
»Wir werden wohl noch den ganzen Abend und auch die kommenden Tage in der Wohnung bleiben.« Cato Isaksen merkte plötzlich, dass ihm vor Hunger schwindlig war. In seiner Tasche klingelte das Telefon. Bente sagte, Sigrid habe soeben Georg geholt und gefragt, ob sie sein nächstes Besuchswochenende um eine Woche verschieben könnten.
»Sehr gut«, sagte Cato Isaksen beim Gedanken an den neuen Fall, der ihn sicher noch eine ganze Weile hindurch Tag und Nacht beschäftigen würde. Er versprach, später anzurufen, und beendete das Gespräch.
»Mir ist gesagt worden, ich solle nicht so viel durch das Treppenhaus laufen«, klagte die alte Dame empört. »Ein Kollege von Ihnen war hier und hat mich aufgefordert, meine Wohnung so wenig zu verlassen wie möglich.«
»Wir müssen Spuren sichern«, erklärte Cato Isaksen und steckte sein Telefon wieder in die Tasche. »Wenn zu viel hin und her gelaufen wird, können wichtige Beweise verschwinden. Und wir möchten den Mörder doch wirklich ausfindig machen.«
»Ja, das sehe ich ja ein. Aber es ist alles so unheimlich, jetzt, wo vor der Tür die rotweißen Bänder angebracht worden sind. Das ist ja wie im Fernsehen«, jammerte Rakel Mandel und klatschte leise in ihre dünnen Hände. Die Worte strömten nur so aus ihr heraus. Sie redete noch immer weiter, als sie beide das Wohnzimmer betraten. Die ganze Zeit wiederholte sie, wie entsetzlich doch alles sei.
»Meine Nachbarin war sehr ruhig. Wir waren nicht gerade befreundet, aber es gab nie Ärger mit ihr. Ich weiß eigentlich nicht einmal, wie sie mit Vornamen hieß. An ihrer Tür steht ja noch immer Bergheim. So heißen ihre Vermieter, wissen Sie.«
Cato Isaksen schaute sich in dem düsteren, zu stark möblierten Zimmer um. Zu große Gemälde bedeckten die Wände. Die Tapete wies an mehreren Stellen feuchte Flecken auf.
»Und sie war so hübsch!« Noch einmal klatschte Rakel Mandal mit einem demonstrativen kleinen Knall in die Hände. »Ich setze nur eben Kaffee auf. Nehmen Sie doch schon einmal Platz.«
Die alte Frau verschwand mit raschen Schritten in der Küche und machte sich dort an Tassen und Untertassen zu schaffen. Cato Isaksen ging währenddessen hinaus auf den Flur und öffnete die Wohnungstür einen Spaltbreit. Roger Høibakk war noch immer bei der Spurensicherung beschäftigt.
Dann folgte der Kommissar der alten Frau in die Küche. »Das mit dem Kaffee ist nicht so wichtig, wir haben im Moment nicht so schrecklich viel Zeit«, erklärte er. »Wir müssen hundert Einzelheiten überprüfen. Ich muss in einer halben Stunde wieder auf der Wache sein.«
»Gerade deshalb brauchen Sie einen Schluck. Natürlich bekommen Sie einen Kaffee«, sagte die Frau rasch und drehte sich zu ihm um. »So hart, wie Sie arbeiten müssen.« Sie schickte ihn wieder ins Wohnzimmer. Er gehorchte und ließ sich in einen viel zu weichen Sessel sinken. Gleich darauf erschien sie mit einem großen Tablett. »Das geht doch so schnell, und sicher brauchen Sie jetzt eine Tasse Kaffee«, sagte sie noch einmal und stellte die Tassen auf den abgenutzten Couchtisch. Dann fasste sie sich an ihren dünnen Hals. »Tut mir Leid«, sagte sie, »ich werde damit einfach nicht fertig. Ausgerechnet sie, sie war doch immer so reizend. Und fröhlich, aber sehr still und zurückhaltend. Ja, so habe ich sie zumindest erlebt. Wir haben uns manchmal im Treppenhaus unterhalten. Ihr Sohn hat sich ab und zu Bücher bei mir ausgeliehen. Und wir haben Halma gespielt. Ich habe ein sehr altes Spiel, das mein Mann einmal auf einer Dienstreise gekauft hat. Ja, er ist leider vor fünfzehn Jahren gestorben.«
Rakel Mandal füllte die Kaffeetassen und reichte dem Fahnder die Plätzchenschale. »Der arme, arme Junge«, sagte sie. »Er ist doch so reizend.«
»Markus«, sagte Cato Isaksen.
»Ja, Markus. Ein feiner Junge. Glänzende dunkle Haare, hübsches Gesicht. Schöne Augen.«
Der Kommissar richtete sich in seinem tiefen, unbequemen Sessel auf und kam gleich zur Sache. »Ich hörte, dass Sie gestern hier in der Gegend eine verdächtige Person gesehen haben.«
Er merkte selbst, wie unbeholfen er sich ausdrückte. Wie ein Ermittler in einem alten Kriminalroman, aber das sollte auch so sein. Alte Damen hatten solche Fragen gern.
Rakel Mandal nickte kurz und zupfte sich an einer Augenbraue, dann ging sie murmelnd in die Küche, um den Zuckertopf zu holen. »Ich koche altmodischen Kaffee«, rief sie ihm zu. »Und dazu braucht man Zucker.« Sie kam mit einer kleinen Porzellanschüssel in der Hand zurückgetrippelt. »Der ist ein bisschen stark, finden Sie nicht?«
»Er ist ganz in Ordnung«, sagte Cato Isaksen und spürte, wie er von Minute zu Minute gereizter wurde. Rasch schaute er auf die Uhr, er musste doch wieder auf der Wache sein, wenn der Bruder auftauchte. Dass solche alten Damen nie hinnehmen konnten, dass man keine Zeit für diesen ganzen Unfug hatte.
»Keine Kaffeemaschine im Haus, nein. Hier wird nur echter Kaffee gekocht.«
Die Tür ging auf und Roger Høibakk schaute herein.
»Hereinspaziert«, sagte Rakel Mandal und lief zwitschernd in die Küche, um noch eine Tasse zu holen.
Roger Høibakk versank im Sofa ebenso tief wie Cato Isaksen im Sessel. Er lachte kurz. »Verdammt«, sagte er. »Kommen wir hier wohl wieder weg?« Cato Isaksen schaute ihn resigniert an und schüttelte vorsichtig den Kopf.
Rakel Mandal kam verwirrt wieder herein. »Ich dachte, ich hätte die Tür geschlossen?«
»Ich habe sie wieder geöffnet«, sagte Cato Isaksen und nickte zu seinem Kollegen hinüber. »Ich wusste, dass er nachkommen würde.«
»Ach so.« Die alte Dame lächelte zufrieden. »Ich habe ja nicht so oft Besuch«, plapperte sie und ließ eine Tirade über allerlei Familienmitglieder folgen. Wo sie wohnten, wer schon tot war. Sie endete damit, dass sie selbst leider keine Kinder hatte, Kinder aber sehr liebe. Wirklich sehr.
Die Polizisten wussten alles über solche alten Damen. Sie hatten in ihrer Karriere schon zahllose vertrocknete Plätzchen verzehrt und jede Menge ungenießbaren Kaffee getrunken. Wenn dabei nicht auch stets brauchbare Informationen herauskämen, würden sie einen riesigen Bogen um diese Personen machen.
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