»Was wissen wir?« Roger Høibakk richtete sich wieder auf.
»Noch gar nichts. Sie wurde gegen halb sechs von einer Zeitungsbotin gefunden«, sagte Cato Isaksen und zuckte mit den Schultern.
»Ich habe die Wache angerufen und gebeten, Personalien und andere wichtige Auskünfte zu besorgen, aber ich gehe davon aus, dass es sich bei der Toten um Ester Synnøve Lønn handelt. In einer Kommodenschublade lag ein alter Pass.«
»Wie alt ist sie?«
»Geboren 1968, also fast zweiunddreißig.«
In dem einzigen und recht großen Schlafzimmer standen an der einen Wand ein großes, zerwühltes Einzelbett, an der anderen ein blau angestrichenes Kinderbett. Die mit Dinosauriern bedruckte Steppdecke war sorgfältig glatt gestrichen. Am einen Ende saß ein großes, abgegriffenen Stoffkaninchen mit langen Ohren und schwarzen Gummistiefeln an den Füßen. Die Luft roch süßlich und stickig. Aus der altmodischen Kugellampe unter der Decke strömte tristes, dunkelgelbes Licht. Unter dem Fenster mit den vorgezogenen Vorhängen stand ein Schreibtisch mit einem Computer. Über der Stuhllehne hingen achtlos hingeworfene Kleider, eine schwarze Hose und ein dicker Pullover. Auf dem Boden lagen eine dünne Strumpfhose und zwei abgenutzte Pantoffeln.
»Sie war eindeutig schon schlafen gegangen«, sagte Cato Isaksen mit einem Blick auf Roger Høibakk, der durch einen Vorhangspalt lugte.
»Sie hatte nicht einmal Zeit, sich die Pantoffeln anzuziehen.«
»Unten auf der Straße ist schon die Hölle los«, sagte Roger Høibakk. »Das finden wir morgen dann in den Schlagzeilen, stell ich mir vor.«
Auf der Wand über dem ungemachten Bett hing ein gerahmtes Zitat: Das Glück kommt zu denen, die es sich mit Gewalt holen.
Ellen Grue trat ins Zimmer. »Den Computer nehmen wir sofort mit«, sagte sie und bat Roger Høibakk, die Leitungen zu überprüfen und das Gerät zum Auto hinunterzutragen.
Die Küche war aufgeräumt. Als Cato Isaksen eine Schranktür öffnete, stand sofort Ellen Grue neben ihm und forderte ihn mit Leidensmiene auf, das zu lassen. Entwaffnend hob er beide Hände und ging seitwärts aus dem kleinen Raum hinaus. »Schon gut, schon gut«, sagte er und bedachte seine Kollegin mit einem warmen Lächeln. Ihre kurzen dunklen Haare waren auf der einen Seite zerzaust. Plötzlich fühlte er sich müde und wach und aufgewühlt zugleich. Er dachte an den Tag, vor einem Jahr, als es zwischen ihnen zum ersten Mal zum Äußersten gekommen war. Sein Mund an ihren Brustwarzen. Ihre glatte braune Haut in der Badewanne. Plötzlich fühlte er sich weit weg von den Menschen, den Gegenständen und den schrecklichen Dingen, die vor kurzer Zeit in dieser Wohnung passiert waren.
»Ellen«, sagte er, aber sie ließ ihn nicht ausreden.
»Gib uns zwei Tage«, sagte sie kurz. »Danach könnt ihr machen, was ihr wollt.«
Der Morgenverkehr war dichter geworden, als Cato Isaksen wieder im Auto saß und zur Wache am Grønlandleiret 44 fuhr. Er hupte gereizt, als ein anderer Wagen sich vor ihn in die Schlange zwängte, und hatte zugleich das bekannte ungute Gefühl im Bauch, eine Mischung aus Erwartung und Ohnmacht. Der Zeitdruck, alles eilte so sehr.
Auf der Wache hatten sie sich vor der Neujahrsnacht gefürchtet. Die Kastastrophenerwartungen beim Übergang ins neue Jahrtausend waren sehr groß gewesen. Aber dann war alles unerwartet glatt verlaufen. Die Computer hatten sich exemplarisch verhalten. Alle Register und Listen, alle Systeme waren weiterhin einsatzbereit.
Dass bei dem großen Waffendiebstahl im Villmarkhus auf Grønland in der Neujahrsnacht auf fünf Kollegen geschossen worden war, zählte hingegen zu den unangenehmen Ereignissen. Einer war verletzt worden, würde jedoch überleben. Von Cato Isaksens Männern hatten nur Roger Høibakk, der zum Kommissar befördert worden war, und der immerzu ruhige, joviale Asle Tengs in jener Nacht Dienst gehabt.
Wie lange dieser neue Fall sie in Anspruch nehmen würde? Welches Schicksal sie diesmal bloßlegen würden? Er dachte an die Leiche der zweiunddreißig Jahre alten Frau mit den blonden Haaren. Welche düsteren Schatten sich wohl hinter diesem Verbrechen verbargen? Welches Leben hatte sie gelebt – oder nicht gelebt? Er holte tief Luft. Sie mussten einfach an die Arbeit gehen. Er würde den Mörder finden. Intuitiv wusste er, dass dieser Mord aufgeklärt werden würde, aber er wusste auch, dass es töricht wäre, sich blind darauf zu verlassen. Doch die vertraute Unruhe mischte sich bald mit einem Gefühl von Ruhe. In sein Leben war Ordnung eingekehrt. Er barst vor Energie und wollte sich jetzt auf seine Arbeit konzentrieren und sich nicht auf weitere Frauen einlassen. Wenngleich »einlassen« vielleicht übertrieben wäre, das mit Ellen war reine erotische Anziehung gewesen, der sie plötzlich freien Lauf gelassen hatten. Auch Ellen hatte das so gesehen, hatte sie gesagt. Sie hatte ihm versichert, dass es zwischen ihnen nur um Sex gegangen war. Und deshalb hatte er sie geliebt. Es gab nur selten Frauen, die so rasch zur Sache kamen wie sie und die danach nicht alles mögliche erfanden, sich die abstrusesten Dinge einbildeten und einen Höllenärger machten. Sie reizte ihn noch immer, aber jetzt musste Schluss sein.
Für einen Moment überlegte er sich, wer eigentlich die Richtige war. Und ob wirklich eine Einzige die Richtige sein konnte oder ob man Stellung beziehen, sich entscheiden musste. Er glaubte wohl eher an Letzteres. Er fühlte sich erleichtert. Er hatte Stellung bezogen. Bente war die Richtige. Er wollte sich an sie halten, an sie und an die Jungen.
Vor und nach dem Wort gibt es das Zeichen und im Zeichen den Leerraum, in dem wir wachsen. So, wie eine Wunde, ist nur das Zeichen sichtbar. Aber das Auge lügt.
Diese Sätze, die er vor Jahren, als in seinem Leben das Chaos herrschte, in einem Buch gelesen hatte, hatten sich ihm aus irgendeinem Grund eingeprägt. Sonst vergaß er fast sofort alles, was er gelesen hatte. Warum aber dachte er jetzt gerade an diesen Satz? So, wie eine Wunde, ist nur das Zeichen sichtbar.
Oft war es so, dass ein einziges Detail in einem verwickelten Mordfall die Lösung bringen konnte. Er dachte daran, als er in die Tiefgarage der Wache einfuhr und seinen Wagen auf seinen festen Parkplatz stellte. Die kleinen Zeichen waren wichtig, schon von Anfang an. Dass das Opfer einen Bademantel getragen hatte, zum Beispiel. Das konnte bedeuten, dass die Frau wieder aufgestanden war, um einem Bekannten die Tür zu öffnen. Aber warum hatte der Mörder die Tür offen stehen lassen, nachdem er den Mord begangen hatte?
Abteilungsleiterin Ingeborg Myklebust rief am selben Nachmittag um 15.30 Uhr alle zu sich ins Büro. Inzwischen hatten die Mordermittler alle Hände voll zu tun gehabt. Die Minuten und Stunden waren nur so verflogen. Sie hatten wichtige Informationen eingeholt, hatten die Nachbarn befragt und Kontakt zu den Angehörigen aufgenommen. Cato Isaksen hatte das Kommando übernommen und seine Leute hin und her geschickt, hatte ihnen Aufgaben erteilt und sich kontinuierlich Bericht erstatten lassen. Hauptkommissarin Ingeborg Myklebust fühlte sich, ganz im Gegensatz zu Fahndungsleiter Cato Isaksen, überhaupt nicht in Form. Ihre prachtvollen roten Haare waren während der letzten Monate grau geworden. Sie fuhr sich mit der gepflegten Hand über den schottisch karierten Rock, zog einen Stuhl hervor und ließ sich darauf sinken. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie schon lange. Und jetzt hatte sie die Konsequenzen gezogen und sich an ihren Arzt gewandt, der sie sofort zu einer gründlichen Untersuchung ins Krankenhaus überwiesen hatte. Die Ergebnisse würde sie einen Tag später erhalten.
Randi Johansen, die gerade nach nur sechs Monaten Mutterschaftsurlaub in den Dienst zurückgekehrt war, brachte für alle Kaffee auf einem Tablett, während Asle Tengs zwei Stühle von der Wand abdrückte und vor den ovalen Besprechungstisch stellte. Roger Høibakk und das Papasöhnchen aus Stabekk, Preben Ulriksen, waren ebenfalls anwesend. Preben Ulriksen konnte fast als Doppelgänger des Fußballspielers David Beckham durchgehen und wurde deshalb immer wieder aufgezogen.
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