Rakel Mandel sprang auf. Cato Isaksen sah zu, wie sie zu einer alten braunen Kommode ging, eine Schublade öffnete und Papierservietten mit Rosenmuster herausnahm.
Als sie sich gesetzt und die Plätzchen noch einmal herumgereicht hatte, wiederholte Cato Isaksen seine Frage. »Würden Sie nun so freundlich sein und uns von Ihrer Beobachtung gestern erzählen?« Seine Stimme klang ein wenig schärfer als geplant.
Rakel Mandal griff sich mit dramatischer Geste an die Stirn. »Ja«, sagte sie. »Ich kann Ihnen sofort sagen, dass er gestern hier war.«
»Er?«
Sie nickte geheimnisvoll. »Ja, der, vor dem sie solche Angst hatte.«
Cato Isaksen schluckte den heißen Kaffee hinunter und schaute zu seinem Kollegen hinüber, der seine Tasse auf den Tisch stellte und den Notizblock aus der Tasche zog. »Das haben Sie vorhin nicht gesagt«, stellte er fest. »Dass es jemand war, vor dem sie sich fürchtete, dass Sie das wussten, meine ich.«
»Ich wusste es schon. Aber ich wollte nicht übertreiben. Sie hatte eindeutig Angst vor dem Vater des Jungen«, sagte die alte Frau. »Ja, das hat allerdings nicht sie persönlich mir erzählt, das muss ich zugeben. Sondern Markus. Einmal, als er zum Halma spielen hier war. Mama hat Angst vor Papa, sagte er. Der arme Junge. Ich habe ihn also gestern Abend spät gesehen«, sagte sie dann. »Ich habe ihn klingeln hören. Und dann stand ich auf und schaute durch den Türspion. Schwarze Jacke und schwarze Haare, hatte Ähnlichkeit mit Markus. Und er war auch früher schon hier.«
»Hat sie ihn hereingelassen?«
»Ja«, sagte Rakel Mandal energisch. »Ich hatte mich eigentlich schon hingelegt, aber dann bin ich wieder aufgestanden. Ich gehe immer früh ins Bett, aber manchmal stehe ich dann wieder auf, weil ich nicht schlafen kann.«
»Und Sie hatten ihn schon einmal gesehen?«
»Sicher, einige Male sogar.«
»Kennen Sie auch seinen Namen?«
Rakel Mandal schüttelte kurz den Kopf. »Nein, keine Ahnung«, sagte sie und reichte ihnen erneut die Plätzchenschale. »Nein, einen Namen habe ich nie gehört. Und Markus hat es nur dieses eine Mal erwähnt, dass seine Mutter Angst vor dem Mann hatte.«
»Sie haben also durch den Türspion geschaut. Sagen Sie, ist Ihnen aufgefallen, was Ester Synnøve Lønn anhatte?«
»Was sie anhatte?«
»Ja.«
»Nichts Besonderes, glaube ich.«
»Sie hatte sich nicht ausgezogen?«
Die Frau dachte einen Moment nach. »Nein.« Rasch schüttelte sie den Kopf. »Das glaube ich wirklich nicht, wenn ich mich recht erinnere, trug sie lange Hosen. Ja, das glaube ich. Schwarze lange Hosen und einen dunklen Pullover.«
Cato Isaksen nickte. »Können Sie den Zeitpunkt nennen?«
»Nein, nicht so ganz, aber ich bin schon gegen halb zehn ins Bett gegangen. Ich habe ihn klingeln hören, und dann war ich doch ein wenig neugierig, wissen Sie. Das muss so gegen zehn gewesen sein, glaube ich. Aber er ist nicht lange geblieben«, fügte sie dann hinzu. »Eine halbe Stunde vielleicht.«
»Ach, und Sie haben keinen Lärm von nebenan gehört?«
Rakel Mandal schüttelte den Kopf. »Er stand danach noch eine Weile auf der anderen Straßenseite und hat eine Zigarette geraucht.«
Roger Høibakk stand auf und trat an eines der Fenster, die auf die Straße hinunter gingen.
Rakel Mandal tat es ihm nach. »Sehen Sie sich diese schöne Pflanze an«, sagte sie und zeigte auf eine üppige Topfblume mit weißen Blüten. »Ich habe sie zu Weihnachten bekommen und sie ist etwas ganz Besonderes. Sie braucht jeden zweiten Tag ein Wasserbad. Ich stelle sie immer im Badezimmer in einen Plastikeimer.«
Roger Høibakk nickte. »Wie lange hat er da unten gestanden?«
»Das weiß ich leider nicht. Ich bin wieder schlafen gegangen, ich bin doch kein Detektiv, ich spioniere anderen Leuten nicht hinterher.«
»Wie sah er aus, waren seine Kleider unordentlich, kam er Ihnen irgendwie verändert vor?«
»Nein«, sagte Rakel Mandal rasch. »Er sah aus wie immer.«
»Ist er mit dem Auto hergekommen, was meinen Sie?«
»Von Autos habe ich keine Ahnung. Ich kann nicht einmal einen Ford von einem Volkswagen unterscheiden. Für mich sind Autos rot oder schwarz oder blau, das ist alles. Ich glaube aber nicht, dass er eins hatte.«
Cato Isaksen erhob sich. In zehn Minuten waren sie mit Bjørn Tore Lønn verabredet. »Sie sind auch später nicht von Lärm geweckt worden?«
»Nein, bin ich nicht.«
»Das Seltsame ist, dass auch die Leute in der Wohnung darunter nichts gehört haben. Dabei muss es doch ziemlich laut zugegangen sein«, sagte Roger Høibakk und erwiderte den Blick der alten Dame.
»Muss es das?« Rakel Mandel musterte ihn besorgt. »War das alles so schrecklich?«
Cato Isaksen nickte. »Irgendwer muss doch etwas gehört haben«, bekräftigte er.
»Nein, aber dass Magda und Oluf von unten nichts gehört haben, ist nicht so seltsam, die stopfen sich vor dem Schlafengehen immer Ohropax in die Ohren. Weil sie zur Straße hin schlafen. Und finden, dass die Autos so schrecklichen Krach machen.«
Bjørn Tore Lønn hatte seine Schwester identifiziert. Es war einfach schrecklich gewesen. Eine blonde Polizistin hatte ihn begleitet. Ester Synnøve war in ein weißes Laken gehüllt gewesen. Ihr Gesicht, das er so gut kannte, ihre Züge, waren gewissermaßen verwischt. Nichts war noch von seiner Schwester übrig, nur ein alles durchdringendes Nichts. Auf ihrer Stirn und der einen Hälfte ihres Gesichts klafften mehrere Wunden. Es war leicht zu sehen, dass sie ausgewaschen worden waren. Um den Hals hatten sie ihr ein weißes Tuch gebunden.
Danach, als er über den Gang wanderte, hörte er hinter einer Tür Stimmen. Er kämpfte um die Erinnerung an den Klang von Esters Stimme. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, dann ging er hinaus in die Kälte.
Er fuhr wie ein Roboter durch die Stadt. Wusste nicht, ob er der Vernehmung gewachsen sein würde. Aber er hatte versprochen, zu kommen. Die Polizei hatte betont, dass sie den Täter dann schneller finden würden. Er seufzte tief. Für ihn stand fest, wer der Täter war.
Bei einem Zebrastreifen hätte er fast einen Mann angefahren. Für einen Moment stellte er sich vor, was passieren würde, konnte aber in letzter Sekunde noch ausweichen. Die Trauer durchströmte ihn wie ein Gift und drang in jede Körperzelle ein. In seinem Gehirn dröhnten die Gedanken wie ein grauenhaftes Kraftwerk der Bosheit. Der alte Mann drohte ihm wütend mit seinem Stock.
Bjørn Tore Lønn wartete schon auf dem Flur, als die Polizisten von ihrem Besuch bei Rakel Mandal zurückkehrten. Cato Isaksen hatte festgestellt, dass das alte Ehepaar aus dem unteren Geschoss am 5. Januar um elf Uhr zu Bett gegangen war, dass es wirklich jeden Abend Ohropax benutzte und deshalb nichts gehört hatte.
Der junge Mann lehnte an der Flurwand. Er sah fast aus, als könne er ohne Stütze nicht aufrecht stehen.
Cato Isaksen begrüßte ihn, sprach ihm sein Beileid aus und bat ihn ins Verhörzimmer. Dann rief er Randi Johansen, die bei der Vernehmung das Protokoll führen sollte.
Es war jetzt halb fünf. Der Hunger nagte wie eine Ratte an seinem Magen. Und er war nicht dazu gekommen, Bente anzurufen.
Bjørn Tore Lønn hatte keine besondere Ähnlichkeit mit seiner Schwester, abgesehen davon, dass er blond war und leichte Sommersprossen im Gesicht hatte. Ansonsten war er kräftig, fast fett und hatte ein breites Gesicht. Er trug eine schmutzige Jeans und eine blaue Daunenjacke.
Bjørn Tore Lønn war sichtlich mitgenommen. Der Schock hatte sich tief in sein Gesicht eingefressen.
»Sie haben versucht, es mir zu verheimlichen«, sagte er. »Sie hatten ihr ein Tuch um den Hals gewickelt. Aber ich habe es ein wenig zur Seite gezogen und ... da waren die Wunden an ihrem Hals, sie muss mit einem großen Messer erstochen worden sein.«
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