Er versuchte, sich darüber klarzuwerden, wofür er kämpfte und wogegen. Was war das Ziel des Hasses, den er in sich spürte, seit er die Nachricht vom Tod seiner Frau und seiner Tochter erhalten hatte?
Seine Augen versuchten vergeblich, irgendwo am Horizont das amerikanische Schlachtschiff »New Jersey« auszumachen. Er fragte sich, was das für Männer waren, die die Geschütze bedienten? Wer hatte ihnen den Befehl zum Bombardement gegeben? Die Offiziere? Ein Admiral? Oder der amerikanische Präsident selbst?
Hussein warf ein paar Steine ins Wasser. Während Möwen dort, wo die Steine versunken waren, vergeblich nach Beute tauchten, suchte er Antworten auf seine Fragen. Er kam endlich zu dem Schluß: der Präsident selbst mußte den Beschuß von Beirut befohlen haben. Präsident Ronald Reagan war schuld am Tod von Miriam und Eva Fatima ... Aber nicht nur er, sondern alle, die ihn gewählt hatten, und auch alle, die nicht verhinderten, was seine Politik anrichtete.
Er würde sich an allen rächen. An allen Amerikanern.
Gott, so dachte Hussein, werde ihm beistehen – denn hatte er nicht allen Menschen gerechten Lohn und gerechte Strafe versprochen?
Er fühlte sich erleichtert, als er kurz vor Sonnenuntergang zurück in die zerbombte Stadt fuhr, zurück in die stickige Enge des Hezbollah -Quartiers von Bachoura.
»Wo bist du solange gewesen?« fragte Amir, als Hussein sein Motorrad auf dem Hof abstellte. »Mojtaba wartet schon auf dich.«
Mojtaba erklärte ihm bei Essen, er solle gemeinsam mit Belal zum Koran-Unterricht und zur politischen Schulung in die halbzerstörte Moschee neben dem alten Friedhof gehen. Ein Imam werde dort über die islamische Revolution im Iran und im Nahen Osten sprechen.
Der Geistliche sprach über den Heiligen Krieg zwischen den von Israel und Amerika unterstützten Christen und den Moslems im Libanon. Hussein brauchte einige Zeit, um die komplizierten Schilderungen über die Auseinandersetzungen zwischen moslemischen Sunniten, Drusen und Schiiten im Libanon zu verstehen.
»Das hat nichts mit unserem Glauben zu tun«, erklärte der Imam, »es geht um soziale und machtpolitische Konflikte: die Sunniten sind immer die reichen Leute im Libanon gewesen, und die Schiiten waren immer die armen, unterdrückten Bauern.« Zu vergleichen sei der Kampf dieser beiden großen islamischen Fraktionen mit dem Bürgerkrieg der Katholiken gegen die Protestanten in Nordirland.
Wie die Streitigkeiten und Kämpfe innerhalb der Schiiten zu erklären seien, wollte Hussein wissen.
»Wie du weißt, verehren alle Schiiten im Libanon den verschwundenen Imam Musa Sadr – Friede sei mit ihm –, der vor Jahren nach Libyen gereist ist und nie wieder lebend gesehen wurde. Musa Sadr hatte die Amal als religiös-politische Organisation der Schiiten gegründet. Aber unter seinem Nachfolger, Nabih Berri, ist die Amal zu einer politischen Gemeinschaft verkommen und hat unsere religiösen Ziele verraten. Wir aber«, so fuhr der Imam fort, »wir kämpfen für eine islamische Revolution im Libanon, so wie sie Ayatollah Chomeini im Iran vollbracht hat. Deshalb auch ist Chomeini unser Vorbild und unser Führer. Deshalb haben wir die Hezbollah gegründet, die Partei Gottes.«
Im Koran-Unterricht in der Moschee hörten Hussein und seine Mitschüler Kassetten mit den Lehren und Predigten des Ayatollah Chomeini.
Der Imam wies seine Schüler besonders auf eine Rede hin, in der Chomeini über das »Quital« sprach, das »Töten im Namen Allahs«. Die Stimme des Ayatollah erklang aus dem Lautsprecher: »Brüder, sitzt nicht zuhause, so daß der Feind angreifen kann. Geht zur Offensive über und seid gewiß, daß der Feind sich zurückziehen wird ... Vergeßt nicht, daß Töten auch eine Form der Gnade ist. Es gibt Übel, die nur geheilt werden können, indem man sie ausbrennt!«
Als Hussein später Mojtaba nach dem Sinn dieser Worte fragte, antwortete der, dies sei als Befehl an alle gläubigen Moslems zu verstehen, die Feinde des Islam und deren Verbündete mit aller Macht aus der arabischen Welt zu vertreiben: die Israelis aus Palästina und dem Libanon, die Amerikaner aus dem Libanon und allen Ölstaaten, und die Sowjets aus Afghanistan. »Dafür kämpfen wir«, sagte Mojtaba, »und du bist durch dein Schicksal auserwählt, mit uns zu kämpfen.«
Am Ende seines ersten Monats in Beirut teilte Mojtaba Hussein eher beiläufig mit, daß sie in ein oder zwei Wochen gemeinsam nach Baalbek ins Bekaa-Tal fahren würden. »Ich habe dort zu tun, und du sollst in Baalbek zum heiligen Krieger ausgebildet werden!«
Vorher müßten er selbst und Amir jedoch noch ein Kommandounternehmen im Süden ausführen. Hussein fragte, ob er mitkommen könne, erhielt aber von Mojtaba die Antwort, dafür sei es noch zu früh.
Drei Tage nach der Abreise der beiden saß Hussein in dem schmuddeligen »Café Raphael« und blätterte in dort ausliegenden zerfledderten Zeitungen.
In einer alten Ausgabe der französischen Zeitung »Le Monde« entdeckte er einen Artikel über die verworrene Situation im Libanon, der überschrieben war: »Wer sind Allahs heilige Krieger?« Hussein las:
»Eine Geheimorganisation, die sich Dschihad Islam – Islamischer heiliger Krieg – nennt, kämpft im Libanon und im gesamten Nahen Osten für eine Revolution nach dem Vorbild des Umsturzes im Iran.
Mut, religiöser Fanatismus und skrupelloser Terror haben die Kämpfer Gottes zu den gefürchtesten Gegnern der militärisch übermächtigen Israelis und der Amerikaner werden lassen. Selbstmord-Kommandos des Dschihad Islam jagten mit Autobomben die amerikanische Botschaft und das US-Marinehauptquartier in Beirut in die Luft und die Unterkünfte der israelischen Armee im immer noch besetzten Süden des Libanon. Kommandos des Dschihad Islam überfielen Militärpatrouillen, legten Minen, entführten Flugzeuge. Mehr als fünfhundert Tote gehen bereits auf das Konto der überall und nirgends auftauchenden Heiligen Krieger ...«
Hussein riß diesen Artikel heraus, faltete ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Tasche seiner Armeejacke. Ein Zeitungsjunge brachte die neueste Ausgabe der größten Beiruter Zeitung »An Nahar« in das Café. Auf der ersten Seite fiel Hussein eine Meldung ins Auge. Die Überschrift lautete: »Selbstmordkommando sprengt israelischen Militärkonvoi.« Der Fahrer eines mit Sprengstoff beladenen blauen Mercedes-Pkws, so hieß es, sei in der Nähe der Stadt Sour in eine Patrouille der israelischen Besatzungsarmee gerast. Er habe sich selbst in die Luft gejagt und fünf israelische Soldaten getötet, die in drei Jeeps gesessen hätten. Während der Verwirrung, die dem Bombenanschlag folgte, hätten Scharfschützen aus einem Hinterhalt zwei weitere Israelis erschossen und mehrere schwer verletzt. Die Meldung endete: »Mit einem Anruf, der im Beiruter Büro der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press einging, bekannte sich die Organisation Dschihad Islam zu dem Anschlag.«
Zwei Tage später kamen Mojtaba und Amir spätabends zurück. Als sie den großen Aufenthaltsraum des Hezbollah -Quartiers betraten, standen die anderen Männer auf und klatschten Beifall. Mojtaba und Amir sahen erschöpft aus. Amirs linker Arm war verbunden. Als sie allein auf ihrem Zimmer waren, fragte Hussein, was passiert sei.
»Die Verletzung ist harmlos«, sagte er, »nur eine Fleischwunde von einem Streifschuß. Es hat stark geblutet, aber diesmal hätten sie uns beinahe erwischt.«
Hussein sah ihn fragend an.
»Habt ihr die israelische Patrouille bei Sour überfallen?«
Amir befühlte seinen bandagierten Arm und nickte. »Danach sind wir in eine Straßenkontrolle der Israelis geraten. Sie hatten das ganze Gebiet abgesperrt. Wir mußten in die Berge flüchten und uns verstecken. Deshalb hat es so lange gedauert.«
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