Auf dem Flur kamen Stiefelschritte näher, und durch die Leichtbauwände hindurch hörten sie aus den Nebenzimmern die gedämpften Stimmen von Mojtaba, Toufik und Belal.
»Wir haben schon zwei Flugzeuge entführt, zuletzt eine jordanische ›Alia‹ nach Amman und wieder zurück nach Beirut«, sagte Amir stolz. »Hier haben wir die Maschine gesprengt. Es hat einen gewaltigen Feuerball gegeben.«
»Ich habe in Deutschland Bilder davon im Fernsehen gesehen«, sagte Hussein.
»Das sollte eine Warnung für den Verräter Hussein von Jordanien sein, damit er aufhört, den Israelis und den Amerikanern in den Arsch zu kriechen.«
»War Mojtaba auch dabei?«
»Hat er dir nichts erzählt?«
»Wir haben bisher kaum über ihn gesprochen. Wir hatten ja mit meinen Problemen genug zu tun«, antwortete Hussein.
Amir schien zu überlegen, bevor er weiterredete.
»Hast du schon mal etwas von Scheich Raghib Tair gehört?«
»Ich glaube ja, früher hat mir mein Vater von ihm erzählt. Er stammt, wenn ich mich richtig erinnere, aus derselben Gegend wie meine Familie.«
»Scheich Raghib Tair hat in Maarakeh in der Gegend von Sour gelebt. Er war ein Imam und einer der Führer unseres Freiheitskampfes im Südlibanon, ein sehr frommer Mann. Sie haben ihn umgebracht, als er gerade von einer Reise in den Iran zurückgekehrt war. Nachts haben ihm die Mörder von hinten drei Kugeln in den Kopf geschossen und seine Leiche vor die Tür seines Hauses gelegt.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Weil Mojtaba der Sohn des Scheichs ist ...!«
Das Feldbett knarrte, als Amir sich mit dem Gesicht zur Wand drehte, um zu schlafen. Durch das Fensterloch fiel ein matter Schein auf seine Kalaschnikow, die er an das Kopfende seines Bettes gelehnt hatte. Bald schnarchte Amir vernehmlich.
Hussein lag noch lange Zeit mit geschlossenen Augen wach.
Flüchtige Bilder flackerten in seinem Gedächtnis auf, wie schlecht zusammengesetzte Filmsequenzen: die vom Sturm gefällte Kastanie vor der Hamburger Moschee – der Imam während der Freitagspredigt – die beiden Reporter in Hamburg – Miriam und Eva Fatima auf der Flugzeug-Gangway – feuerspeiende Geschützrohre auf dem Fernseh-Bildschirm und tote Frauen und Kinder – der Iman, der zu ihm sprach »Du mußt jetzt tapfer sein, Hussein ...«
Erst allmählich verblaßten die Bilder. Hussein Alir Bakir fiel zum erstenmal seit Tagen in einen tiefen, erschöpften Schlaf.
Wie Mojtaba es vorhergesagt hatte, wurde die Beerdigung am nächsten Tag zu einer Protestdemonstration der schiitischen Bevölkerung von Beirut gegen das Bombardement der amerikanischen Mittelmeerflotte. Mehr als vierzigtausend Menschen folgten den Särgen der auf dem Marktplatz getöteten Frauen und Kinder. Bewaffnete Einheiten der libanesischen Armee und Kämpfer der Amal -Miliz marschierten am Anfang und am Ende der Trauerprozession. In der Mitte rollten drei Mercedes-Militärlastwagen im Schrittempo. Auf den Ladeflächen lagen primitive, rombenförmige Holzsärge, von schwarzen Trauerfahnen bedeckt. Kleine handgeschriebene Zettel an den Stirnseiten nannten die Namen der darinliegenden Toten.
Die Särge von Miriam und Eva Fatima waren bereits zugenagelt gewesen, als Hussein und Mojtaba zum Ausgangspunkt des Umzuges im Armenviertel von Bir el Abed gekommen waren. Es sei besser, wenn die Särge geschlossen blieben, sagte ein Sanitäter des »Roten Halbmonds«, als Hussein fragte, ob er seine Frau und seine Tochter noch einmal sehen könnte. Die meisten Toten, fuhr der Mann fort, seien übel zugerichtet worden. Er händigte Hussein das rote Spielzeugköfferchen seiner Tochter aus, die Handtasche seiner Frau und auch ein Halskettchen, das man ihr abgenommen hatte.
Hussein klappte das goldene Herzchen auf, das an der Kette hing. Darin war ein winziges Foto. Es zeigte ihn und seine Frau mit der erst einige Wochen alten Tochter Eva Fatima. »Sie hat es immer getragen, Tag und Nacht«, sagte Hussein. Mojtaba nahm das Kettchen, legte es ihm um den Hals und machte den Schnappverschluß zu. »Damit du weißt, für wen du nun zu kämpfen hast!«
Während des Trauermarsches hielten sich Mojtaba, Amir, Belal und Toufik stets in Husseins Nähe. Der Weg führte aus der Vorstadt über die Küstenstraße in das Geschäftsviertel von West-Beirut, durch die Rue Hamra, an Bachoura vorüber und parallel zur »Grünen Linie« bis zu einem Pinienwäldchen an der Avenue du Novembre, in dem auf einer kleinen Grünfläche nebeneinander Gräber ausgehoben worden waren.
Über den Köpfen der marschierenden Menge wehten die grünschwarzen Fahnen der Amal und die schwarzen Flaggen der Hezbollah .
An der Küstenstraße verharrte der Zug eine Weile. Tausende von Fäusten und von Gewehren wurden drohend gegen das Meer erhoben, auf dem irgendwo hinter dem Horizont das Schlachtschiff »New Jersey« liegen mußte. Im Rhythmus, den Einpeitscher durch Megaphone vorgaben, skandierte die Menge immer wieder dieselben Schlachtrufe: »Tod den Amerikanern!« – »Tod den Zionisten!« – »Reagan ist ein Verbrecher!«
Aus der Gruppe der Hezbollah erscholl der Ruf »Chomeini ist unser Führer!« Im Zug wurden Transparente mitgeführt, auf denen der Kopf des amerikanischen Präsidenten zu einer teuflischen Fratze verzerrt war. Darunter stand: »Scheitan Bozorg« – »Der Obersatan!«
Frauen im Schador trugen vergrößerte Fotos im Goldrahmen mit sich, Bilder ihrer getöteten Angehörigen. Zehn- bis fünfzehn Jahre alte Jungen schleppten schwere Gewehre und lange Patronengurte. Vor den Gräbern im Pinienwäldchen warfen sich schwarzgekleidete Klageweiber, die ihre Gesichter mit Ruß beschmiert hatten, auf die Knie, schrien ihren Schmerz hinaus und trommelten mit bloßen Händen auf den steinigen Boden.
Als die Hinterbliebenen der Opfer rotbraune Erde auf die Särge schaufelten, durchbrachen zwei israelische Phantom-Düsenjäger die glasige Wolkendecke, die an diesem Tag über Beirut hing. Die Maschinen donnerten so tief über die Trauergemeinde hinweg, daß die Köpfe der beiden Piloten im Cockpit zu erkennen waren. In ohnmächtiger Wut feuerten Milizionäre einige hundert Kugeln aus amerikanischen und sowjetischen Gewehren in die Richtung, in der die Kampfflugzeuge längst wieder hinter den Wolken verschwunden waren.
Bei der Abschlußkundgebung in der Moschee von Bir el Abed sprach Scheich Fadlallah, den viele libanesische Schiiten für den Nachfolger des verschwundenen Imam Musa Sadr halten, persönlich das Totengebet. Fadlallah, ein imposanter, großgewachsener Mann mit dichtem Vollbart, trug zum langen schwarzen Gewand auch einen schwarzen Turban, der ihn als einen der direkten Nachkommen des Propheten Mohammed auswies. Als Fadlallah die Gläubigen zum Gebet aufrief, verbeugten sich Zehntausende gen Mekka. Es sah aus, als ob die Straßen mit menschlichen Körpern gepflastert wären.
Ein iranischer Mullah zitierte die Worte des Koran-Gelehrten und Revolutionärs Morteza Motahari: »Das Blut der Märtyrer ist nie verschwendetes Blut, denn jeder Tropfen dieses Blutes bringt Tausende frischer Tropfen hervor und dieses frische Blut wird wieder in den Körper der Gesellschaft gepumpt werden.«
Erst als die Veranstaltung beendet war, als die Menschen sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten, bemerkte Hussein, daß seine persönliche Trauer in der Masse verlorengegangen war. Er hatte sich von der Stimmung, von den Gesängen, vom kriegerischen Geschrei, vom Zorn der Zehntausende so sehr mitreißen lassen, daß er kaum noch an seine Frau und seine Tochter gedacht hatte. Als ihm das bewußt wurde, erschrak er.
Er ging am frühen Abend allein in die Moschee mit dem zerschossenen Minarett am Hezbollah -Quartier in Bachoura. Er betete für Miriam und Eva Fatima. Er bat Gott auch um Kraft und Tapferkeit für sein neues Leben, das nun beginnen sollte.
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