Geduldig saß Grete im Laden auf der umgestülpten Tonne. Ringsum tiefe Dunkelheit, feuchte Kälte, die bis ins innerste Mark kroch. Ein Modergeruch stieg auf, aus den Körben mit Rüben und Kohl, aus den übereinander geschütteten Kartoffeln ein fauliger, trauriger Duft nach welkendem Grün, nach sterbendem Leben.
Leise, wie zögerndes Tropfen kam’s von den Wänden; in den schwarzen Ecken ein Knacken und Knistern und Rieseln und Rascheln. Nebenan ertönte rauhes, sägendes Schnarchen; dazwischen Winseln wie das eines jungen Hündchens — das war Elli, die wimmerte im Schlaf.
Das einsame Mädchen schauderte und faltete die Händefest im Schoß. Seine Glieder waren erstarrt; sein Kopf schwer wie Blei. Mit überwachten Augen starrte es in die schwarze Nacht. Immer weiter, sehnender die Blicke — teilte sich nicht die Finsternis, öffnete sich nicht das Gewölbe?
Blauer Himmel glänzte nieder und tat sich auf, und mitten darin Jesus Christus im Glorienschein.
— — — „Siehe, ich bin dein Freund! Ich bin dein Bruder! Für dich bin ich gekommen, für dich bin ich gestorben, für dich, für dich! Komm zu mir, heut, jetzt, in diesem Augenblick — rette deine Seele!“
Mit einem Schrei sank die Verlassene in die Knie und streckte die Hände aus, unsägliches Verlangen im Blick, zitternde Hingabe in jedem Glied.
„Steht mein Name dort schon
Vor dem goldenen Thron?“
„Halleluja — Jesus — Halleluja!“
„In dem Buche des Lebens,
Steht mein Name dort schon?!“
Keine Antwort. Verschwunden die Vision. Der Keller ein gähnendes Grab. Huh, so kalt, so leer, so einsam! Stärker wurde der Modergeruch, gespenstischer raunten die Stimmen der Nacht.
Weinend lallte Grete Unverstandenes in unverständlicher Sprache. Eine unbeschreibliche Aufregung hatte sich ihrer bemächtigt, ein unerklärliches Gefühl hatte sie ergriffen — war es Jubel, war es Schmerz! Krampfhaft falteten sich ihre Hände. Dahin! Dahin, wo das Perlentor winkt, wo „Er“ steht, der Freund und Bruder! Zu seinen Füßen ausruh’n, sein Gewand berühren: Rette, rette mich!
Viertelstunde auf Viertelstunde, halbe Stunde auf halbe Stunde schlich dahin; Grete empfand nicht mehr das langsame Rücken der Zeit.
Mitternacht war längst vorbei, als Trude klopfte; geschickt überhüpfte sie die Stufe, darunter die verborgene Klingel anschlug.
Sie hatte sich im nächtlichen Café, wo „er“ sie mit Schokolade und Kuchen gefüttert, arg verspätet. Nun wehten ihre Locken zerzaust. Ihr heißer, erregter Puls klopfte an die dünnen, eiskalten Hände der Schwester; ihren raschelnden Röcken entströmte ein schwerer Duft nach Zigarrenrauch.
Ohne Wort leitete die Jüngere die Ältere sorgsam durch die undurchdringliche Finsternis.
Und immer regelmäßiger klopfte Trude so spät an die elterliche Tür, und immer gleich geduldig öffnete Grete.
So ging der Winter hin. —
Arthur wurde seines Lebens daheim nicht froh. Da war es in der Schule doch besser gewesen; er empfand zuweilen eine Art Sehnsucht dahin. Da hatte man doch stillsitzen und übers Buch weg in die Luft stieren können. Jetzt hieß es ewig: Arthur hier, Arthur da! Ohne bestimmte Tätigkeit war er Hans in allen Ecken. Die Mutter postierte ihn mit Vorliebe in den Laden. Da mußte er zwischen den Körben stehen und Kartoffeln abwiegen und Gemüse anpreisen, vor allem aber die Mägde poussieren. Vater Reschke verstand das zwar recht gut, aber so ein junger Kerl, das ist doch was and’res! Haare, die sich an den Schläfen voll krausen, und ein keimendes Schnurrbärtchen sind anziehender. Mutter Reschke warf ihrem Arthur ermunternde Blicke zu, und wenn er nicht forsch genug war, bekam er Schelte. „So’n dummer Junge, der würde es nie zu was bringen, der hatte gar keinen Pli fürs Geschäft.“
Verdrossen hörte er sich’s an, alle Tage verdrossener. Schon das Aufsteh’n war schrecklich. In stockdunkler Nacht klopfte ihn der Vater heraus, er mußte ihn zur Zentralmarkthalle begleiten. Der Hinweg ging noch, da war’s noch sehr früh; aber mit scheu gesenktem Blick, abwechselnd blaß und rot werdend, kam er heim. Wenn ihm nur keiner der früheren Mitschüler begegnete! Nervös fuhr er zusammen, sowie ein Tritt dicht neben ihm erscholl — unnötige Sorge, die würden ihn neben der Hundekarre gar nicht kennen! Mit einem Gefühl unsäglicher Bitterkeit sah er an den stattlichen Häuserfronten in die Höhe —, er wohnte im Keller. Zuweilen besuchte er Mine, denn wenn sie in den Keller kam, konnten sie doch nur Blicke des Einverständnisses wechseln. Bei ihr fand er wenigstens Mitgefühl. In die Küche zu Hauptmanns durfte er nicht kommen, so schlich er denn in der Dämmerung die Hintertreppe hinauf, wie ein Dieb, und klopfte verstohlen an die Tür, auf der, über dem Haken zum Kleiderausklopfen, eine Visitenkarte angenagelt war: „von Saldern, Hauptmann“.
Dann kam Mine zu ihm heraus. Hinter der angelehnten Tür auf dem zugigen Treppenabsatz flüsterten sie miteinander. Mit einem Ohr lauschte Mine immer in die Wohnung zurück; tönte drinnen eine Klingel, stürzte sie hastig hinein: „Arthur, wart! Ich komm’ gleich wieder!“
Und er blieb draußen stehen und wartete.
Im Zugwind flackerte die im Hinterhaus nur spärlich brennende Gasflamme, deren Licht mehr verhüllte als zeigte. Stolperte irgendein unsicherer Tritt die Treppe herauf, so drückte er sich scheu in eine Ecke; er wollte nicht gesehen sein, wie ein Bettler hinter der Küchentür stehend. Im stillen schimpfte er auf die Herrschaft, die Mine so lange zurückhielt. Und wenn Mine dann wiederkam, schimpfte er auch laut auf die da drinnen, auf Vater, Mutter, auf die ganze Welt.
Sie hörte ihm zu, mit einem bekümmerten Gesicht. „Ja, das is nu mal so, da mußte der drein finden. De einen haben’s besser, de andren schlechter; aber wenn mer’s recht betracht, das Zuckerlecken is’s nirgendswo. Zum Beispiel, meine Madam — das is auch schwer mit die Kinder; und aussehn soll’s immer nach was; Ende der Woch’ kriegt nur unser Herr Fleisch.“
„Was geht mich deine Madam an?! Mögen sie essen, was sie wollen. Aber ich halt’s nich mehr aus! Wenn das so weiter geht, ich halt’s nich aus!“
„Ach, Arthur“, sagte sie ganz traurig, nahm seine Hand und behielt sie in der ihren, „sei doch nich so! Versuch’s nur noch mal! Was willste denn machen? Es ist doch nich so schlimm, un —“
Sie sprach nicht weiter, jemand kam die Treppe herauf. Wie ein ertapptes Liebespaar fuhren sie auseinander; sie schlüpfte in ihre Küche zurück, und er schlich leise die vielen Stufen hinunter.
Zu Hause mußte er gleich an die Rolle; früher war Peters so galant gewesen, den Mädchen zu drehen, aber der war nun weg von Hauptmanns in die Front zurückgekommen, und der neue Bursch war „noch viel dämlicher“, wie Frau Reschke sagte. Körbe, hochbepackt mit Wäsche, harrten; Arthur wurden die Arme lahm. Die Rolle quietschte und knarrte unaufhörlich. Mit letzter Kraft drehte Arthur, Schweiß perlte ihm herunter. Seine blassen Wangen röteten sich. Jede angestrengte Bewegung schleuderte ihm die Haarlocken ins Gesicht; Frau Reschkes mütterliche Eitelkeit litt nicht, daß er sich die schneiden ließ. —
Elli stimmte an:
„Das ist der Arthur,
mit seiner Haartour,
mit seiner Tolle,
mit seiner Wolle“ —
Und der Chor der Mägde fiel jubelnd ein:
„Der schöne Mann,
der alles kann!“
Da packte ihn plötzlich eine wilde Lustigkeit, er ließ die Kurbel fahren, mitten hinein setzte er in den Knäuel der aufkreischenden Weiber. Zwischen den Körben hindurch jagte er sie. Vater Reschke war auch mit vom Spaß, er verstellte den Fliehenden mit ausgebreiteten Armen den Weg, während Mutter Reschke, hinterm Ladentisch, schmunzelnd auf ihren flotten Jungen sah.
Das Gewölbe hallte wider vom ausgelassenen Gekreisch, rot und erhitzt verließen die Mägde den Reschkeschen Keller. Rot und erhitzt suchte Arthur sein Bett auf, das Blut floß ihm erregt durch die Adern. Am anderen Morgen schmerzte sein Kopf, eine schwere Mattigkeit lähmte seine Glieder.
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