Nachts lag sie in ihrer kalten Kammer — die verklammten Hände hielten das Heft kaum und las. Die Kerze, die sie dem Kronleuchter im Salon entnommen, flackerte in dem feinen Zugwind, der durch die Ritzen des schlecht schließenden Fensterchens drang, und warf lange seltsame Schatten auf die weißgetünchte Wand. Sie las und las. Ein feuchter Moderhauch strich durch die nie geheizte Kammer, fröstelnd zog sie das Tuch, das sie über ihre Nachtjacke geknüpft, fester um sich. Mitternacht; es wurde eins, auch noch später. Endlich löschte sie das Licht, schüttelte sich in wollüstigem Grausen und zog die Decke bis zum Kinn. Liebes- und Mordgeschichten nahm sie mit hinüber in ihren Traum.
Am ersten Januar kündigte Bertha. Sie tat es sehr bescheiden, mit einem gewissen Bedauern in Ton und Haltung, es sei ihr sehr unangenehm, aber sie fühle es deutlich, die vier Treppen griffen ihr die Brust an.
Die Hauptmännin war wie vom Donner gerührt, sprachlos sah sie in das frische, rosige Mädchengesicht, dessen Augen, blank vor Gesundheit, in die Welt strahlten.
„Un denn, gnäd’ge Frau —“ Bertha hielt es für gut, offen zu sein, vielleicht ließ sich die Madam schrauben. Wenn sich grade jetzt kein besonders glänzender Dienst fand, würde sie am Ende mit Zulage noch bleiben und auf Besseres warten. „Ich brauche zuviel Schuh auf den Treppen. Wa-s ich zerreiße — ne, ich kann’s nich aufbringen! Mit siebzig Taler — unmöglich!“
„Es ist das Äußerste, wir können nicht mehr geben“, sagte die junge Frau tonlos. Sie schien traurig; lange stand sie am Fenster der Wohnstube, die Hände um den Fenstergriff gelegt, und starrte umflorten Auges auf die winterlich düstere, regenfeuchte Straße hinab, dann wieder hinauf zum nebelverhangenen, düsteren Himmel. Ließ sie denn nicht fünf gerade sein, kontrollierte kein Mädchen, drückte nicht nur eins, nein, beide Augen zu! Und behielt doch keinen Dienstboten! Das Geld, das Geld! Ja, wer achtzig, neunzig, hundert Taler geben konnte, der hatte tüchtige und anhängliche Leute!
Sie sah so bekümmert aus, daß Bertha, als sie hereinkam, um den Tisch zu decken, in einer ihrer plötzlichen Anwandlungen von Herz sagte: „Gnäd’ge Frau, ich wüßte wohl’n Mädchen für gnäd’ge Frau!“
„So?“ Etwas belebt drehte sich Frau von Saldern um.
„Meine Freundin will sich gern verändern.“ Bertha hatte erst gestern von Mine drei Mark geborgt und überlegte nun rasch, wie wenig diese nach den drei Mark fragen würde, wenn sie ihr fort aus der Destille half. Und verpflichtete sie sich nicht zugleich der Frau Hauptmann, wenn sie ihr ein neues Mädchen verschaffte? Die würde es ihr beim Zeugnisschreiben danken. So lobte sie denn die Freundin auf alle Tonarten: Ehrlich, fleißig, bescheiden, gewandt und so weiter.
„Wo dient sie denn jetzt?“
„In ’nen Restorang!“ Und dann nach kleiner Pause: „Drüben, Kirchbachstraße, an der Ecke.“
„Was, in der Destillation — ?“
Frau von Salderns Gesicht wurde lang.
„Mein Gott, ich kann doch nicht ein Mädchen aus solchen Umgebungen nehmen!“
„Seien Sie ganz beruhigt, gnäd’ge Frau“, versicherte Bertha, „ein hochanständiges Mädchen, sie is mit mir aus einem Ort. Sie hat eben Pech gehabt. Sie paßt ganz für gnädige Frau, groß, stark — gnäd’ge Frau haben sie ja mal gesehen, unten im Keller bei Reschkes.“
„Ja, ja, ich erinnere mich. Aber so wenig repräsentabel!“ Die junge Frau seufzte. „Wenn die die Tür aufmacht, sieht das ja nach gar nichts aus!“
Nach was aussehen soll sie auch noch? schwebte es Bertha auf der Zunge; aber sie unterdrückte die Bemerkung und sah mit einem kleinen, wohlgefälligen Lächeln an der eigenen Gestalt herunter. „Ach, wenn die erst im hochherrschaftlichen Hause is — gnäd’ge Frau werden sehen — denn macht sie sich bald ’raus!“
So entschloß sich Frau von Saldern, Mine zu mieten. Man kam auf fünfundfünfzig Taler überein, was ihr für dies wenig ansprechende Dienstmädchen reichlich genug schien.
Mine war glückselig. In der Freude ihres Herzens umarmte sie Bertha immer wieder. Das würde sie der nie vergessen! Es beeinträchtigte ihre Seligkeit keinen Augenblick, daß der Destillateur ihr ins Zeugnis schrieb: „Träge, langsam, spricht immer gegen, sonst ehrlich.“ —
Bertha steckte jetzt mehr denn je im Reschkeschen Keller. Dienste hatten sich ihr genug geboten, aber die Reschke hatte ihr energisch davon abgeredet; die waren in entfernten Straßen, und Mädchen, die viel bei ihr kauften, gab Frau Reschke nicht gern weit weg. Endlich, kurz vor dem Ersten, fand sich etwas. Frau Reschke las es in der „Vossischen“, die sie sich für fünf Pfennige die Stunde drüben vom Kaufmann holen ließ.
„Für herrschaftlichen Haushalt, Potsdamer Straße 72, wird zu sofort gewandtes Hausmädchen gesucht, gegen hohen Lohn.“
Das „gegen hohen Lohn“ war fett gedruckt. Sofort schickte die Reschke Elli zu Bertha hinauf. Diese ließ alles im Stich, die Küche halb aufgeräumt, das Geschirr vom Mittag unabgewaschen, die Kinder allein — Hauptmanns waren ausgegangen — stürzte in ihre Kammer und wählte da lange. Wie sollte sie sich kleiden? Wenn sie nur gewußt hätte, wie’s die Leute Potsdamer Straße 72 liebten! Endlich entschloß sie sich für ein einfaches Waschkleid. Es fror sie zwar, als sie in dem dünnen Fähnchen über die Straße lief, aber das Bewußtsein, wie doppelt rosig ihr Gesicht über dem Weißblau der Taille leuchtete, half ihr darüber hinweg.
Ganz geblendet kam sie von ihrem Ausgang zurück, den Mietstaler in der Tasche. Man hatte sie in einen Salon eingelassen, in dem die gnädige Frau in seidnem, spitzenbesetztem Negligé auf dem Ruhebett lag und in einem Buch las.
Prachtvolle Gardinen verhüllten die Fenster, der Fuß versank in einem dicken Teppich; Bilder in breiten Goldrahmen hingen an den Wänden, aus dem Kronleuchter sprossen gläserne Blumen hervor. Überall kostbare Nippes und Ständer und Möbel in Überfülle. Bertha atmete tief auf: so war es bei Hauptmanns nicht! Da stand alles so vereinzelt; im Salon Sofa, Tisch, Sessel, Pianino und ein rundes Marmortischchen mit Lampe — das war alles. Der Teppich reichte nicht einmal durch die ganze Stube. Hier wagte sie vor Bewunderung kaum die Füße zu setzen; aber ihr Bild, das ihr aus dem geschliffenen Spiegelglas überm Kamin entgegenlächelte, machte ihr Mut.
Frau Pahlke war die Witwe eines reichen Mannes und schwärmte für Kunst. Und durch die Kunst für die Schönheit. Sie engagierte nie häßliche Dienstboten. Berthas anmutige Erscheinung nahm sie sofort ein; diese hübsche Person mußte sich immer in rosa kleiden, mit weißem Häubchen und geschickter Tändelschürze. Nach wenig Fragen war Bertha engagiert, kaum hatte sie noch nötig, das treffliche Zeugnis vorzulegen, das ihr der Hauptmann auf Wunsch seiner Frau schon ausgestellt. Nach der Zusicherung von achtzig Talern und fünf Talern Zulage nach dem ersten Vierteljahr empfahl sie sich.
Auf dem teppichbelegten Korridor mit den vielen Türen, die ihre neugierigen Blicke zu durchbohren suchten, begegnete ihr ein junger, eleganter Mann und musterte sie im Vorbeistreifen.
„Der junge Herr“, flüsterte das Mädchen, das sie herausließ, mit vielsagender Miene.
Bertha stürzte sofort in den Reschkeschen Keller, ihr Glück zu verkünden. Dort hatte der Abendsturm noch nicht begonnen; so fand Frau Reschke Zeit zu angemessenen Ratschlägen für die neue Stellung. Sie saßen zu zweit auf der umgestülpten Tonne, Rücken gegen Rücken gelehnt.
Die Junge blickte nach der Treppe, über die wenigstens ein schwacher Strom Luft sich von oben herunter stahl, und lauschte lächelnd. Die Alte guckte zurück in ihr Kellerloch, das finster gähnte, und schwatzte unaufhörlich mit heiserer, eindringlicher Stimme.
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