Als Gösta gegangen ist, bringt Mari den Müll weg und wünscht sich, sie könne mit ihm alle Pflichten, alle Schuldgefühle, das ganze schlechte Gewissen wegwerfen. Symbolisch würde sie ein Sühneopfer mit einem Opferlamm in Form eines Müllbeutels machen. Sie bindet die Tüte fest zu, geht auf den Hof hinunter und drückt sie kräftig in die Tonne hinein.
Einen Patienten zu haben, dem man nicht helfen kann, vermittelt Machtlosigkeit und verstärkt die Schuldgefühle, die man schon hat, denkt sie. Sie zwingt sich, nicht mehr an Vera zu denken, und geht in den Keller, um Wäsche aufzuhängen.
Es wird Zeit, Anton ins Bett zu bringen. Als sie ihm Frosch und der Fremde vorgelesen und das Licht gelöscht hat, sagt er: »Mama, im Kindergarten haben sie gesagt, dass jemand erstochen wurde.«
Mari kann sich das gut vorstellen. In Sundsby breiten sich Gerüchte schneller aus als ein Virus. Sogar im Kindergarten. Sie wählt ihre Worte vorsichtig.
»Aber die Polizei wird den Bösen bald fangen.« Sie versucht, selbstsicher zu klingen.
»Mama, ich habe Angst. Stell dir vor, der Böse ersticht mich oder uns.«
»Anton, das wird er nicht! Es gibt böse Menschen, aber nicht viele. Die allermeisten sind nett. Das darfst du nicht vergessen. Du hast ja mich und Oma und Opa.«
Er muss sich mit der Antwort zufriedengeben und schläft nach einer Weile ein. Sie bleibt noch liegen, hört, wie seine Atemzüge gleichmäßiger werden, und seine Hand, die ihre so fest gedrückt hielt, wird schlaff. Es hat mit Vertrauen zu tun. So etwas kann ein Fünfjähriger nicht verstehen. Bevor sie neben ihm einschläft, obwohl sie vorgehabt hatte, nach oben zu gehen und die Nachrichten anzuschauen, denkt sie darüber nach, dass das, was man einem Kind nicht erklären kann, für niemanden zu verstehen ist.
Sie befindet sich auf einer Lichtung, und Gösta läuft ihr entgegen. Als er näher kommt, sieht sie, dass er mit Blut und Sägespänen beschmiert ist. Er lacht und wedelt mit den Armen. Sie dreht sich um und versucht wegzulaufen, aber stolpert über einen Ast und kommt nicht wieder hoch ...
Mari wacht auf, schweißgebadet. Wo ist sie? Ach ja, in Antons Bett. Sie dreht sich auf die andere Seite, um auf seine rote Mickey-Maus-Uhr zu schauen. Viertel nach zwei. Ganz vorsichtig, um den Jungen nicht zu wecken, steigt sie aus dem Bett und geht in die Küche, um etwas Wasser zu trinken. Sie hat kein Licht angemacht, und als sie ein Glas gefüllt hat, um es mit ins Schlafzimmer zu nehmen, stößt sie gegen ein Stuhlbein und verschüttet das Wasser auf den Teppich und ihre Hose. Im Schein einer kleinen Lampe wischt sie den Boden und legt ein Handtuch unter den Flickenteppich.
Aber dann, als sie im frischen Nachthemd in ihrem eigenen Bett liegt, ist es vorbei mit dem Schlaf. Die Streckübungen, die sie unternimmt, um sich zu entspannen, sind nutzlos. Sie steht wieder auf, geht zurück in die Küche und macht sich Milch warm, die sie zum gelben Sofa im Wohnzimmer mitnimmt. Sie holt sich ein Kissen und eine Wolldecke und legt sich hin. Das Sofa, einer ihrer besten Käufe, eignet sich immer, um darauf einzuschlafen. In wie vielen Nächten wurde sie nicht von Alpträumen wach, ging den üblichen Weg über die Küche – komisch, dass der Boden davon nicht ausgetreten ist – und schlief dann wie ein Kind auf dem Gelben ein. So nennt sie das Sofa. Das Gelbe.
Aber in dieser Nacht funktioniert es nicht. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie die Szene aus dem Badezimmer vor sich. Sie beschwört andere Erinnerungen herauf. Anton in Opas Wagen in Liseberg. Der See am Mittsommerabend. Die Aussicht vom Elchturm, oben bei Råås Schlag. Sie werden zu verschwommenen Negativen, die ständig vom Bild von Bengt verdrängt werden, auf dem das Blut und der Körper messerscharf zu erkennen sind.
Es fällt schwer, nicht an den Mord zu denken. Damit ihr bei dem Gedanken an den Toten nicht übel wird, beginnt sie statt dessen zu überlegen, wer es getan haben könnte.
Es muss einer seiner kriminellen Bekannten gewesen sein. In der Zeitung steht immer wieder etwas über Auseinandersetzungen in der Unterwelt. Bengt und ein anderer Drogenabhängiger haben sich vielleicht um Rauschgift oder Geld gestritten, oder sie waren einfach besoffen. Die Obduktion wird wohl zeigen, ob er betrunken war, als er starb.
Es ist traurig für Vera. Sie braucht nicht noch mehr Sorgen und Leid. Mari fragt sich, wie es Vera geht. Sicher noch eine, die schlecht schläft.
In der Nacht kommen die Gedanken. Die frühen Morgenstunden wirken besonders lang, denn alles, was tagsüber klein scheint, bekommt riesige Proportionen, wenn man eigentlich schlafen sollte.
Was hatte Patricia noch gesagt? Patricia, die Maris überfüllte Taschen in einen Rucksack verwandelt hatte, in dem sich nur das Nötigste fand. Dass der Rucksack zwar nass und schwer würde, wenn es stürmte, aber dass er dennoch halten würde.
Mit seiner Bürde leben. Erinnerungen. Erlebnisse. Sorgen. Versäumnisse.
Nachts wird das Gepäck am schwersten.
So viele spielen auf diese Rucksäcke und Taschen an, die Gleichnisse Jesu der modernen Zeit. Das, was wir in uns tragen, das für andere unsichtbar ist. Wie leicht es ist, sich selbst zu täuschen und zu glauben, jetzt sei der Inhalt ausgepackt und geordnet. Man klatscht in die Hände, reckt das Kinn und macht ein paar Tanzschritte. Dann, ohne Vorwarnung, steht das Gepäck im Flur und wartet darauf, noch einmal ausgepackt zu werden. Eine endlose Wiederholung.
Mari will Patricias Rat folgen, das zu tragen, was sich nicht wegschmeißen lässt; sich nicht selbst mit der Illusion betrügen, alles könne weggeworfen werden. Ein intakter Bumerang kommt zurück, einer, den man zerbrochen hat und von dem man die Splitter behält, prallt dagegen nicht ganz so heftig auf dich zurück.
Schließlich fällt Mari in einen unruhigen Schlaf, und als sie aufwacht, stellt sie fest, dass sie seit einer Viertelstunde bei der Arbeit sein sollte. Sie schaut bei Anton ins Zimmer und findet ihn vor, wie er auf dem Boden sitzt und Lego spielt. Neben ihm liegt eine leere Brottüte. Eine Packung Milch steht auf dem Nachttisch.
»Ich rufe schnell bei der Arbeit an, Anton.«
»OK, Mama.« Er hat die Schlafanzugjacke ausgezogen und sitzt mit bloßem Oberkörper da.
Gunilla, eine der Sekretärinnen, ist am Telefon.
»Hallo, Mari hier. Ist Lars zu sprechen?«
»Ich glaube, die Leitung ist frei. Ich verbinde.«
»Lars Wirding.«
»Hallo! Hier ist Mari. Ich konnte heute nacht nicht schlafen und würde den Vormittag über gerne zu Hause bleiben.«
»Brauchst du Urlaub? Soll ich versuchen, für eine Woche oder so eine Vertretung zu finden?«
»Nein, das ist nicht nötig, aber vielen Dank.«
»OK. Pass auf dich auf.«
»Ja. Ich komme zur Dienstbesprechung heute nachmittag.«
Den Kindergarten ruft Mari auch noch an, bevor sie Haferbrei kocht. Anton und sie essen, und dann nimmt Mari ihre Kaffeetasse mit in sein Zimmer. Sie setzen sich auf das Bett und spielen Mensch-ärgere-dich-nicht, ein Spiel, das Mari verabscheut, aber Anton liebt. Wie üblich wirft sie ihn nicht raus, wenn sie könnte, er freut sich immer so zu gewinnen.
»Mama, du bist dran!«
»Entschuldige, Anton. Ich war in Gedanken.«
»Sollen wir lieber etwas lesen?«, fragt er.
»Gut, aber erst will ich ein bisschen kuscheln.« Sie streckt sich auf dem Bett aus und er kriecht zu ihr hin, bohrt sein Gesicht unter ihr Kinn. Sie streicht ihm über den Kopf. Er ist so weich, so warm.
»Kitzle mich, Mama!«
Sie krault ihm den Rücken, dann geht sie zum Bücherstapel und sucht ein Buch aus. Sie sitzen im Bett und lesen von einem Mädchen, das sich im Wald verirrt, als es mit einem Kleid zu einer reichen Dame gehen soll. Dann will Anton einen Film anschauen.
»Wir nehmen Der Wind in den Weiden, Mama.« Das ist sein Lieblingsfilm. »Sooo bin ich noch nie gefahren, sagte der Maulwurf ...«Er kann die Dialoge auswendig.
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