Åsa Nilsonne
Rivalinnen - Schweden-Krimi
Gabriele Haefs
Saga
Rivalinnen - Schweden-Krimi Übersetzerin Gabriele Haefs Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2000, 2020 Åsa Nilsonne und LUST All rights reserved ISBN: 9788726445114
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von LUST gestattet.
Der Oberarzt fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Noch einmal, bitte.«
»Der Mann ist tot. Todesursache war ein schwerer Infarkt. Und wir haben damit einige Probleme: Zum einen wissen wir nicht, wer er ist. Zum anderen hat er vor seinem Tod eine hohe Dosis Viagra eingenommen, zugleich aber hatte er Betablocker geschluckt, was möglicherweise zum Infarkt geführt hat. Und drittens hat einer von Ihren Ärzten die Betablocker verschrieben. Vorgestern.«
Der Oberarzt brauchte Zeit zum Nachdenken. Deshalb wandte er sich zunächst der Frage zu, die nichts mit ihm zu tun hatte.
»Wieso wissen Sie nicht, wer er ist?«
»Was mit dem Rezept ist, meinen Sie? Die Person, als die er sich ausgegeben hat, existiert nicht. Er hatte drei Pässe, von denen einer mit seinem Personalausweis übereinstimmt. Und jetzt ist er tot, und wir wissen nicht einmal, welche Botschaft wir informieren müssen.«
»Botschaft?«
»Bei uns hat er sich als Grieche mit schwedischer Staatsbürgerschaft ausgegeben. Das steht auch in seinem Ausweis, der jedoch gefälscht ist. Ansonsten hat er einen libanesischen Pass, der zweite ist aus Costa Rica, und dem dritten zufolge ist er Belgier.«
»Und wir haben ihm die Betablocker verschrieben?«
»Falls das Rezept nicht auch gefälscht ist, ja.«
»Und die Viagra?«
»Die hatte er offenbar schon vorher bei sich. Die Packung ist auf Portugiesisch beschriftet.«
»Geben Sie mir bitte seine Personenkennnummer, dann sehe ich in seiner Krankengeschichte nach. Ich bin gleich wieder da.«
Der Oberarzt stellte fest, dass er wirklich Angst hatte, so große Angst wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr.
»Heute haben wir einen Fall, der Schlagzeilen machen wird.«
Gruppenleiterin Daga Eriksson von der Kriminalpolizei City ließ ihren Blick über die bleiche Runde schweifen und legte eine Kunstpause ein.
Es war Montagmorgen an einem der dunkelsten Tage des Jahres, und als ob das nicht schon ausreichte, war die Temperatur über Nacht auch noch dramatisch gesunken. Polizeiinspektorin Monika Pedersen nahm an, dass ihre Chefin gerne in interessierte und gespannte Gesichter gesehen hätte, unternahm aber nicht einmal den Versuch, diesen Erwartungen zu entsprechen. Es war der schlimmste Herbst gewesen, den sie je erlebt hatte: viele schreckliche Verbrechen, resignierte Stimmung auf der Wache, Konflikte im Kollegenkreis. Zu allem Überfluss fror sie außerdem noch immer von ihrem Weg von der U-Bahn hierher in die Bergsgata ‒ vierzehn Grad unter Null wären im Januar und Februar ebenfalls schlimm gewesen, doch jetzt im Dezember sorgte die Kälte dafür, dass sie sich regelrecht betrogen fühlte.
Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie darauf wartete, dass Daga weiterredete.
Schlagzeilen.
Das bedeutete vermutlich, dass irgendwer sich auf eine so ungewöhnliche oder entsetzliche Weise an jemand anderem vergriffen hatte, dass die Presse mit hohen Verkaufszahlen rechnen konnte. Es konnte auch bedeuten, dass es sich um keines der üblichen Opfer handelte, sondern vielleicht sogar um ein Kind. Oder um einen Prominenten, zu dem einige Millionen Menschen ein pseudo-intimes Verhältnis hatten. Keine dieser Alternativen sprach Monika an. Sie hatte nie einen Hang zum Bizarren oder Scheußlichen gehabt, und sie hatte niemals Prominente als Ersatzgeschwister oder -freunde betrachtet. Wenn sie ‒ und das war nur selten der Fall gewesen ‒ auf ein Gesicht gestoßen war, das sie aus dem Kino oder dem Fernsehen kannte, hatten diese Leute dermaßen selbstsicher und gelassen gewirkt, dass Monika sich noch unansehnlicher als sonst gefühlt hatte. Zu diesen Menschen wollte sie einfach keinen engeren Kontakt haben.
Dieser Montag, der so übel angefangen hatte, schien seinen Tiefpunkt noch längst nicht erreicht zu haben.
Schließlich senkte Daga ihren Blick auf die Protokolle der vergangenen Nacht.
»Heute Morgen um Viertel nach fünf hat ein Mann beim Notruf angerufen und mitgeteilt, dass unten bei Kungsholms Strand auf der Igeldammsgata eine Frau liegt«, sagte sie.
Es war also eine Frau. Monikas Stimmung sank noch weiter in den Keller. Sie hatte sich nie daran gewöhnen können, dass Frauen fast routinemäßig ermordet wurden. Sie hatte sich nie mit der Ohnmacht anfreunden können, die ein kleiner Mensch angesichts eines viel größeren empfindet, und außerdem wusste sie, dass es nicht ausreichte, Frau zu sein und ermordet zu werden, um Schlagzeilen zu machen. Es würde noch schlimmer kommen. Es war jedenfalls die falsche Jahreszeit für impulsive Vergewaltigungen unter freiem Himmel ‒ Winterkleidung war gar kein schlechter Schutz, und bei vierzehn Grad unter Null versagte sogar die härteste Erektion. Monika war nun doch neugierig darauf, was eigentlich passiert war.
Daga jedoch schien noch immer auf irgendeine Pointe loszusteuern.
»Ein Krankenwagen wurde hingeschickt, aber die Jungs konnten nur feststellen, dass die Frau tot war, vermutlich schon seit Stunden. Bei dieser Kälte lässt sich das ja nicht so leicht sagen. Das meinen auch unsere lieben Ärzte.«
Daga zog eine Grimasse, was die ganze Runde nachahmte ‒ die Ärzte, die durch die Gegend fuhren und Todesfälle registrierten, waren nicht besonders beliebt, da sie oft nicht wussten, wie man sich an einem Tatort zu verhalten hat, was der Polizei dann allerlei Probleme bescherte. Außerdem wurden sie viel zu gut bezahlt, zumindest sah die Polizei das so, für die einfache und ungefährliche Arbeit, die sie da verrichteten.
»Die Frau hatte eine Handtasche mit Brieftasche, Ausweis und jede Menge Kram. Und es handelt sich um Lottie Hagman.«
Das war also die Pointe, und jetzt reagierten alle. Monika sah die wechselnden Gefühle in den Gesichtern der anderen ‒ Neugier, Trauer, Zweifel. Sogar die Kriminalpolizei kann von einem unerwarteten Todesfall schockiert sein, wenn sie zu dem oder der Toten irgendeine Beziehung hat.
Lottie Hagman gehörte der Generation von Prominenten an, die das ganze Land kannte. Sie hatte seit ihrem Debüt als ‒ selbstverständlich strahlend schöner ‒ Backfisch Theater gespielt und war in zahllosen Filmen aufgetreten. Und sie war immer den aktuellen Trends gefolgt und allen anderen um den berühmten Schritt vorausgewesen. Sie hatte ihr Leben praktisch vor dem Vorhang geführt, hatte auf allen Bildern immer gleich gut ausgesehen und war eine zuverlässige Vertreterin des jeweiligen Zeitgeistes gewesen. Und jetzt war sie plötzlich tot. Überrascht stellte Monika fest, dass sie eine gewisse Trauer empfand, obwohl sie Lottie nie begegnet war und sie auch nicht sonderlich geschätzt hatte.
Daga hatte nun immerhin die Aufmerksamkeit aller Anwesenden geweckt: Nicht einmal Lottie Hagman würde hier bei der Kripo diskutiert werden, wenn sie zum Beispiel einem Herzinfarkt erlegen wäre.
Daga hatte wie üblich keine Hemmungen damit, das zu sagen, was ohnehin auf der Hand lag.
»Ihr möchtet jetzt sicher wissen, was wir damit zu tun haben.«
Natürlich sagte niemand etwas dazu.
»Also, vor einer halben Stunde hat Derek Cremer von der Gerichtsmedizin angerufen und erzählt, dass der Arzt, der sich die in der Nacht eingelieferten Leichen angesehen hat, die Verletzungen an dem Leichnam seltsam fand. Lottie ist auf einer Treppe im Freien gefunden worden, und die beiden Kollegen, die als Erste beim Tatort waren, und die Ärzte glaubten zuerst, sie sei gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen, entweder auf das eiserne Geländer oder auf eine Treppenstufe. Ungefähr auf der Höhe der rechten Augenbraue ist die Haut zerfetzt, und die darunter liegenden Knochen sind verletzt. Sie hatte außerdem auf der rechten Wange, mit der sie auf der Treppe lag, eine große und frische Schürfwunde. Die anderen dachten, sie sei einfach ausgerutscht oder hätte einen Infarkt erlitten, einen epileptischen Anfall oder etwas Ähnliches, und sei dabei gestürzt. Später aber hat der Techniker dann auch auf der anderen Kopfseite eine schwere Verletzung entdeckt ‒ es sieht aus wie eine Impressionsfraktur, also eine Eindellung der Schädelknochen, ungefähr so wie ein eingedrücktes Ei. Derek schlägt vor, dass wir morgen bei der Obduktion zusehen; er kann natürlich noch nicht viel sagen, aber diese Befunde geben ihm doch reichlich zu denken.«
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