Aino Trosell
Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
Saga
Sieh ihnen nicht in die Augen - Ein Schweden-Krimi Übersetzt Gisela Kosubek Original Se dem inte i ögonen Copyright © 2002, 2019 Aino Trosell und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726344172
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Jemanden zu begraben ist einfach. Jemanden wieder auszugraben ist schlimmer. Wo ist der Arm? Es fehlt ein Stück vom Hals. Wo kommt dieser zusätzliche Fuß her? Und wenn der Kopf nie wieder gefunden wird, kann man dann überhaupt davon sprechen, dass man die sterblichen Überreste dieser Person vor sich hat? Also wenn ausgerechnet der Kopf fehlt?
Was ist eigentlich ein toter Mensch? Knochenreste, Stoffreste und ein Stück erdiger Haarsode?
Oder nur die große Lücke, der Verlust? Die Leere, vollgepfropft mit Gefühlen und Erinnerungen, die den Hinterbliebenen zerreißen? Weil da niemand mehr ist.
Doch vielleicht lügen sie, vielleicht hält man ihn nur gefangen, nutzt ihn irgendwo als Sklavenarbeiter, oder vielleicht versteckt er sich, verstecken sie sich und hatten keine Möglichkeit, eine Nachricht zu senden, und wohin hätten sie die auch senden sollen in dieser chaotischen Zeit? Man kann niemandem trauen auf der ganzen weiten Welt.
Jemanden zu begraben ist einfach. Falls man eine Leiche hat, die man begraben kann, eine, die man wiedererkannt hat. Die man insofern wiedererkannt hat, als es da ein unwiderlegbares Zeichen gibt, einen Beweis.
Das Grab war nicht besonders tief, als sie anfingen. Aber es wurde immer tiefer und tiefer. Würde das denn nie aufhören, würde man nie den Boden erreichen? Reichte dieses Grab bis in die Hölle hinunter?
Diese Hölle wurde sichtbar, als der Himmel sich öffnete und es nass und glitschig wurde und die Gerüche freikamen und alles nur noch ein einziger Morast war.
Er war nur einer von vielen. Er lag mit der Nase in jemandes Schritt und mit auf dem Rücken gebundenen Händen, wie all die anderen auch. Der Lehm war kompakt, jetzt aufgeweicht. Mit einem obszönen Laut bekam man den Körper schließlich frei und steckte ihn in einen weißen Sack. Die Grabwände waren spiegelglatt, aber schließlich gelang es, den Sack auf die Ladefläche eines LKW zu schwingen, und die erste Etappe begann.
Den anderen fand man ein paar Tage später. Der Zusammenhang zwischen beiden war noch unbekannt. Der Letztere war von Granatsplittern durchlöchert, und einer davon war unmittelbar tödlich gewesen, direkt ins Herz und durch die Hauptschlagader gegangen, ganz unverkennbar.
Es war nichts Perverses an diesen Menschen, die hier die bereits Toten ausgruben. Nein, vielleicht waren gerade sie besonders edel, weil sie sich hier abseilen ließen zu den glitschigen Rändern der Hölle und dort am Abgrund Fragen stellten und Antworten suchten für all jene, die es nicht konnten, die es nicht vermochten, aber gern getan hätten, wenn sie nur das Wissen und die Kraft besessen hätten.
Einst war dieser Mann schön anzusehen gewesen, aber das blieb diesen stillen Helden verborgen, denn er war hässlich wie all die anderen, und er stank entsetzlich. Sie hatten aufgehört, sich zu erbrechen. Sie arbeiteten mit verbissenem Trotz.
Und das Grab reichte jetzt bis in die Tiefe, wo das Wasser gegen die Seitenwände drückte, und die Erde kam ins Rutschen und drohte, sie den gleichen Weg gehen zu lassen, jedoch bei lebendigem Leibe, sie zu begraben unter der Last der Lehmmassen.
Der Berg liegt vor ihm, gewaltig.
Wie der gigantische weiße Bauch einer Frau – ja! Bald wird er in sie eindringen – ja!
Er ist scharf, diese verdammte Erektion will sich nicht legen, er kann kaum gehen, das Lachen blubbert in die Nase hoch wie Kohlensäure, Mann, die Nacht ist so verdammt schön, dass er mit ihr lachen, mit ihr weinen will. Die Nacht ist wild. Sie ist wild. Er wird reiten, wird gleiten, an ihrer Seite, er darf jetzt nicht kommen.
Die erste Etappe: das kurze Stück vom Skishop am Hotel bis runter an den Fuß des Berges. Am Fuß des Berges – ha, das ist doch dieser alte Rocksong! Der ist gut. Das Schlauchboot gleitet los, saust den Abhang hinunter, es ist, als gehe es ungehindert über eine Abschussrampe, der Fahrtwind brennt in den Augen, aber am Skilift ist die Reise zu Ende, keinerlei Schlange in dieser Nacht.
Nirgends ein Mensch.
Das Hotel liegt dunkel, nichts zu sehen in dieser Richtung, rückwärtig also. Wie spät ist es? Schon wer weiß wie spät.
Sie liegt dort vor ihm, wölbt sich üppig. Er will auf sie rauf, die Siegesprobe bestehen.
Sie türmt sich auf, alle Scheinwerfer sind eingeschaltet, aufwärts am Lift entlang wie gewaltige Lichtdioden, und der Schnee reflektiert und spiegelt sie tausendfach, ja die Nacht ist zum Tag erleuchtet, und das Licht kommt wie aus dem Urmagma selbst. Er braucht eine Entladung seiner Kraft.
Das Boot lässt sich leicht ziehen, er hat es mit einem Riemen um die Taille befestigt. Was für ein Anblick! Aber alle schlafen. Er müht sich den Hang hinauf mit seinem riesigen Hinterleib, und er denkt an andere Hinterleiber und schwellende Körperteile, und das verleiht ihm Energie, sodass er es weiter schafft, immer weiter. Sie treibt ihn an, dicht neben ihm – Hitze durch alle Schichten.
Der Berg ist höher und gewaltiger aus der Nähe, und die Kuppe entfernt sich unablässig, foppt ihn mit ihrer Unberechenbarkeit, lockt und provoziert – er muss bis dort hinauf! Der Schweiß rinnt. Er wird dort stehen. Er wird sie überwinden.
Und dann.
Natürlich wagt er es. Dazu ist er doch da. Es ist der Sinn des Lebens, Herausforderungen anzunehmen, sie durchzuführen und dann die Belohnungen einzustreichen. Sie gurrt und provoziert. Sie wird nicht müde.
Er keucht vor Anstrengung, die Beine zittern. Kein Ständer mehr. Bestens. Er will nicht zu schnell kommen, er will an der Flanke hinuntergleiten, das heftige Tempo spüren, die milchweiße Bergflanke in berauschendem Fieber. Den Preis.
Nur noch die letzte Steigung. Und sie reagiert. Er sieht das Drehrad des Lifts und die kleine Rampe, wo die Leute abspringen.
Es ist eine fantastische Nacht und ein fantastisches Abenteuer, in das er einfach so hineingeraten ist. Und niemand weiß etwas, er ist kurzerhand losgezogen. Sternenschwärme wölben sich hoch über ihm – Schwindelgefühl. Tief dort unten die leuchtenden Lampen des Hotels, der Hütten und Apartments. Die Straße wie ein schmales, funkelndes Diadem. Kein Auto zu sehen. Alle Fenster liegen dunkel. Ein Fernsehmast in weiter Ferne mit seinen roten Lichtern.
Und der Steilhang, der Steilhang mit dem schlafenden Lift gleich nebenan. Seine Urfrau.
Man braucht sich einfach nur hinzugeben – ja. Das erste Mal soll es genau so geschehen – ja.
Er ist jetzt nüchterner. Er weiß genau, was er tut. Er ist stark, und seine Urfrau sagt ihm, dass er schön ist.
Jetzt steigt er ins Boot. Sie sagt, er soll sich zurücklehnen, die Augen schließen und sich einfach hingeben.
Durch die dünne Haut der Augenlider spürt er, wie ihre Gestalt, als sie breitbeinig über ihn tritt, das starke Licht der Scheinwerfer abschirmt.
Jetzt beginnt die letzte Fahrt – wow!
Die verdammten Zeiger, wie spät ist es? Steht still! Du großer gib Ruhe dort oben auf der Zwölf und der kleine? Drei? Was? Aber da kann er Mossi doch nicht anrufen. Sie wird wütend. Bestimmt wird sie das. Oder ihr Mann geht ran. Und der wird auch wütend.
Und sie noch mehr. Einfach nicht gern gesehen. Analyse abgeschlossen, und das Ergebnis lautet: nicht anrufen.
Читать дальше