Nein. Man hat doch schon einiges erlebt, man weiß, was man tut, Mensch, man ruft doch nicht nachts um drei bei seiner Assistentin an, um – ja – um zu sagen, dass man sie ... vermisst. Und zwar sehr und dass man gern ...
Man ist ja wohl kein Idiot, man hat doch alles im Griff. Das muss man schließlich, wenn man der Sicherheitsverantwortliche bei der bevorstehenden Landeskonferenz ist.
Obwohl, warum kann man eigentlich nicht anrufen, wenn man nun schon eine solche Position innehat? Es könnte ja was Wichtiges sein, eine Spionagesache, ein illegaler Transport bereits zerstörter Tretminen, diese verdammte Geschichte, bestimmte Dinge sollte man einfach nicht erfahren. Darum musste er sich ein andermal kümmern, er sehnt sich nach Mossi.
Ruhig, bleib ruhig, eins nach dem anderen. Denk nach. Der Whisky, wo zum Teufel, ach da. Der traurige kleine Rest fühlt sich total einsam, klar dass er zu den anderen Schlucken will, und man ist ja nicht so!
Also wringt man auch den letzten Tropfen aus der Flasche. Wie Bernstein dort im Glas, man dankt – fast halbvoll. Vielleicht ist man das selber ja auch, doch zum Glück hat man alles im Griff, und die Aussicht ist großartig, dieser fantastische Hang, hellerleuchtet wie am Tag, man hat die eleganteste Suite, man ist eine bedeutende Persönlichkeit, man kann anrufen, wenn man will und wenn man Unterstützung braucht, man hat eine Assistentin, eine korrekte, wunderbare kleine Mossi, Greta Mossberg, tief im Inneren wissen wir beide, dass unter den förmlichen Kostümen ein Herz schlägt und ein Puls klopft, Blut, das man in Wallung küssen könnte.
Dieser wundervolle Whisky, ein Göttertrank, man schwebt unter dem Dach des Berges, und man ist einsam auf der Welt, die anderen sind gefahren oder, besser gesagt, noch nicht gekommen.
Nein, aber jemand geht dort, kämpft sich den Hang hoch, scheiß, was hat der da, einen Schlitten oder was, laufen da zwei, verdammte Höllentropfen, womöglich sieht man schon doppelt,
ist nicht so klar, wohin die wohl wollen oder das oder er oder sie?
Irgendwas bewegt sich den Berg hoch, mehr weiß man nicht, und die Scheibe ist voller Eisblumen, na und?
Na und.
Göttliche Tropfen, aber fuck, wie diese letzten doch reinhauen, haben die ganze Fackel in Brand gesteckt, jetzt ist man plötzlich total besoffen, spürt’s, es brennt, sticht, geht heiß und geil abwärts,
sodass es rutscht, au das Kinn
an der Tischkante, der Hang, wo ist er geblieben, das Fenster weit oben, hier unten auf dem Fußboden, nein also der Teppich, puh, der stinkt.
Obwohl, wozu ein Bett, Schwerkraft ist alles.
Kalt ist es auch nicht, was man braucht, das gibt es doch hier, jetzt gehörig betäubt, man tritt schon weg beim bloßen Gedanken.
Keine Wahl. Sollte pinkeln, sollte trinken, sollte weiter denken.
Aber der Schwerkraft, der gehorcht man,
folgt dem Gesetz, yes,
man bleibt liegen, sollte das Jackett ausziehen und die Schuhe, pah, die Schuhe, so weiß man wenigstens, wo man sie hat, gute Nacht all du verdammtes Schuhzeug und Fahrzeug und du weite Panoramaaussicht dort oben über einem. Man ist ein Krieger.
Und man fällt auf seinem Posten.
Natürlich in Stiefeln.
Teil I
Hinter dem eleganten und hellerleuchteten Empfangstresen des Hotels, hinter den bequemen Sitzgruppen und den hohen, kostspieligen Blumenarrangements gibt es einen weiteren Tresen, es ist ein schmaler schäbiger Tisch im Halbdunkel des Gangs, der zum Wintergarten und seinen Toiletten führt, und jeden Morgen um sechs versammelten wir uns dort.
Diejenige, die am weitesten zu fahren hat, kam zuerst, und das war ich. Schließlich war es nicht gesund, mit hundertzwanzig durchs Tal zu preschen, ich wollte genügend Spielraum haben, es konnten Schneepflüge dazwischenkommen, Unfälle oder Matsch auf der Fahrbahn – man musste auf beinahe alles gefasst sein. Aber der Zustand der Straße war im Allgemeinen gut, also traf ich manchmal schon um halb sechs am Ziel ein. Der Nachtportier begrüßte mich stets leicht verwundert, jung wie er war – offenbar dachte er, wie können Leute freiwillig auch nur eine Minute zu früh zu so einer unchristlichen Arbeit erscheinen.
Die anderen trudelten nach und nach fast unbemerkt ein. Die meisten, die in den Personalapartments wohnten, kamen durch den Hintereingang angeschlichen.
In diesen frühen Morgenstunden wurden nicht viele Worte gewechselt. Die gemeinsame Sprache war noch nicht richtig greifbar, man war nicht im Stande sich anzustrengen, nachzudenken, wie die Dinge hießen und auf Schwedisch ausgesprochen wurden.
Verstohlen betrachtete ich meine Arbeitskollegen. Sie taten mir leid. Die meisten von ihnen waren unter einer heißen Sonne und zunächst ohne jeden Begriff von Kälte und abnehmendem Tageslicht aufgewachsen, jetzt aber verbrachten sie ihre Tage hier zwischen Papierkörben, leeren Flaschen, Reinigungsmitteln und Schnee. Alle aber waren freiwillig hergekommen, und es passierte nicht oft, dass sich jemand beklagte. Anscheinend lebten sie heute besser. Waren sie nicht vor der Armut und Unsicherheit geflohen, dann aufgrund von Gewehrsalven und nächtlichen Razzias. Ich hatte inzwischen so manche Geschichte zu hören bekommen, und einige waren so unvorstellbar, dass die Versuchung groß war, sie als Lügenmärchen abzutun.
Jetzt erschien Muhammad aus Afghanistan, und ich dachte: Wer wird den Roman deines Lebens aufschreiben, wie du gefoltert und halb verhungert über die Berge nach Pakistan entkommen und dann hinaus aufs offene Wasser geflohen bist, ausgerechnet mit dem Ziel Australien und dann weiter über den halben Erdball, vermutlich mithilfe von Menschenschmugglern. Dergleichen hatte er angedeutet. Ich vermutete, dass er ihnen Geld schuldete. Sie hatten ihre Netzwerke, und wenn es Not tat, wurden die Schulden gewaltsam eingetrieben, war mir klar geworden, doch selten las man von solchen Abrechnungen, meist genügten wohl Drohungen. Ingalill behauptete, der übliche Preis würde bei fünftausend Dollar liegen.
Muhammad verdiente nicht mehr als ich. Wahrscheinlich bezahlte er seine Schulden noch immer ab. Und er schickte Unterhalt an seine Eltern. Muhammad könnte Geld gebrauchen, viel Geld. Dennoch grüßte er freundlich und lächelte, als gäbe es keinerlei Sorgen auf der Welt. Vielleicht spielte er ja Toto?
Bea aus Somalia hingegen lächelte nicht, vor allem nicht früh am Morgen. Sie war Mathematikerin, aber hatte sich irgendwie mit dem Regime ihrer Heimat überworfen. Also gehörte sie jetzt der bestausgebildeten Putzgilde der Welt an, nämlich der schwedischen. Glücklicherweise putzte sie gut. Sie ließ ihren Zorn an Bettwäsche und Duschräumen aus und konnte einen Apartmentflügel ganz allein schaffen, wenn es trotz voller Belegung an Kräften mangelte. Ja, Bea war gut, und sie redete auch nicht viel. Wie sie hier gelandet war, wusste ich demnach nicht, aber eins hatten alle meine Arbeitskollegen gemein, und zwar, dass man sie als erste Maßnahme von staatlicher Seite im Asylantenheim Kläppen untergebracht hatte, zwanzig Kilometer weiter unten im Tal.
Das Hotel seinerseits hatte herausgefunden, dass es in Kläppen willige und billige Arbeitskräfte gab. Dank der veränderten Gesetze konnten die Asylbewerber jetzt während der Antragszeit arbeiten, und da sie nicht so unzuverlässig waren wie die aufsässigen Teenie-Girls, die das Hotel früher beschäftigt hatte, so war der Stamm der Putzmannschaft nunmehr stabil. Hin und wieder hörte jemand auf, aber die Löcher wurden rasch gestopft, die anhaltende Konjunkturflaute hatte dafür gesorgt, dass heute jeder Arbeitsplatz Attraktivität besaß.
Draußen war es schneeverhangen und ziemlich kalt, und jetzt trat die Hauptfigur des nächsten Romans aus dem Schatten, nämlich Hedy aus Tschetschenien. Ihrem Mann war es gelungen, sie herzuholen, ich glaubte verstanden zu haben, dass er ein ehemaliger Guerillakämpfer war. Sie wohnten unten im Dorf Sälen und nicht wie die meisten anderen in den teuren Personalapartments auf dem Berg. Ja, auch Hedys Geschichte war ein Roman, aber wer vermochte ihn zu interpretieren, bei diesem fernen, unbegreiflichen Land und obendrein der Sprachbarriere – die Gespräche blieben wahrhaftig ziemlich einförmig. Aber auch Hedy war gut im Putzen, und aufgrund ihrer sympathischen Art fügte sie sich hier gut ein. Über ihren Mann wusste ich nicht mehr, als dass er viel herumreiste, vielleicht war er Dolmetscher, er weilte ja schon weitaus länger in Schweden als sie.
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