»Ich bin zwischen dem Müll herumgelaufen. Sie haben es ja selbst gesehen. Schmutzwäsche und Bierdosen. Dann habe ich den Anrufbeantworter auf dem Nachttisch abgehört und Jannes Nachricht gehört.«
»War die Tür zum Badezimmer geschlossen?« Svensson nimmt das letzte Knäckebrot vom Teller.
»Ja. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, sie zu öffnen. Das hatte ich vorher nie gemacht. Ich glaube, dass ich etwas gerochen hatte.«
»Es fanden sich keine sichtbaren Blutspuren auf der Treppe, aber der, der das gemacht hat, wird kaum umhingekonnt haben, Blut abzubekommen. Außerdem war auf dem Boden im Flur irgendetwas Klebriges, worin wir Fußspuren gesichert haben. Deshalb würde ich gerne die Schuhe ausleihen, die Sie dort trugen, um Ihre Spuren auszuschließen.«
Mari ist aufgestanden, um das Kasslergratin aus dem Ofen zu nehmen. An Svenssons Blick sieht sie, dass er hungrig ist.
»Essen Sie doch mit uns. Ich hole nur schnell Anton.« Svensson ist Jäger. Er hat ein Stück Land in Norrland und war Anfang September dort. Sie haben viel Gesprächsstoff während des Essens. So viel, dass sie ihn hinauswerfen muss, um Anton rechtzeitig zum Kindergarten zu bringen, bevor sie zur Arbeit fährt.
Der erste Freitagnachmittag im Monat ist für die Mitarbeiterversammlung reserviert. Mari schleicht sich zu einem Stuhl im hinteren Teil des Konferenzzimmers. Gunilla, die rechts neben ihr sitzt, nickt ihr zu und zeigt auf die Kaffeetassen. Mari bejaht, und Gunilla schenkt ein. Es gibt zwei Sekretärinnen für die Ärzte, Gunilla und ein Mädchen, das Margareta heißt. Sie arbeitet halbtags und ist heute nicht da.
Maris Kollegin Eva reicht ihr Kuchen nach hinten. Mari sollte nichts mehr essen, aber sie schiebt ihre guten Vorsätze beiseite und nimmt ein Stück, während Lars vorne anfängt zu reden. Er hat den Overheadprojektor eingeschaltet und eine Art Diagramm aufgelegt. Er streicht sich die Haare aus der Stirn.
Mari findet, dass er gestresst aussieht. Sie schaut sich um, die anderen wirken auch müde. Eva-Lena Grundén, die andere Kreisärztin, die immer in lila gekleidet ist, kritzelt auf einen Block. Sie ist eine gute Ärztin, engagiert und klarsichtig, die aber dennoch das Vermögen hat, nichts an sich persönlich heranzulassen. Eine Eigenschaft, die für einen weiblichen Arzt wohl notwendig ist. Die Patienten erwarten mehr von einer Ärztin. Ein männlicher Arzt darf etwas grob, unsensibel und unhöflich sein; er wird vielleicht nicht gerade geliebt, aber die Patienten kommen damit zurecht. Von einer Ärztin erwartet man dagegen ein Übermaß an all den Eigenschaften, die als weiblich gelten. Sie muss verständnisvoll, mitfühlend, tröstend sein und alle Zeit der Welt haben. Wie eine Art Über-Mutter. Dasselbe wird im übrigen auch von Krankenschwestern verlangt.
Während die Welt um einen herum von der Marktwirtschaft und ihrem Leistungsdruck gelenkt wird, steht die Krankenschwester für das genaue Gegenteil. Das Menschliche. Diejenigen, die Schwäche verachten, wollen selber mit Liebe und Verständnis behandelt werden. Aber es ist nicht so, dass diese Erwartungen an Krankenschwestern beim Gehalt honoriert würden. Noch immer bringt die Pflege von Maschinen mehr ein als die Pflege von Menschen. Ein Computerfreak, der nur Abitur hat, verdient mehr als eine ausgebildete Krankenschwester mit einem rückzahlungspflichtigen Studiendarlehen.
Mari seufzt innerlich über das ungerechte Leben, schaut Eva-Lenas lockiges, hennagefärbtes Haar an. Wie alt wird sie sein, zweiunddreißig? Als würde die Ärztin ihren Blick spüren, sieht sie auf und lächelt Mari an, die zurücklächelt. Sie sind bisher immer gut ausgekommen, vielleicht, weil Mari nie Eva-Lenas manchmal dominierende Art in Frage gestellt hat.
Im Labor gibt es zwei einfache Krankenschwestern, Lotta und Sofia. Jetzt sitzen sie nebeneinander und schauen auf eine Tabelle. Die dritte Krankenschwester, Ulla, die im Kreis arbeitet, flicht eine Strähne ihres langen blonden Haares zu einem Zopf, aber man merkt, dass sie dennoch zuhört. Ihre Berufsgruppe ist die, die unter den Einsparungen der letzten Jahre am meisten gelitten hat.
Außer Mari und Eva gibt es noch zwei weitere Kreiskrankenschwestern in der ambulanten Pflegestation. Birgitta, die bald in Rente geht und froh darüber ist. Sie meint, dass sie mit den Veränderungen nicht mehr zurechtkommt. Der Beruf, den sie einmal gewählt hat, ist heute so völlig anders als vor vierzig Jahren. Sie sitzt links von Mari und spielt mit den Kuchenkrümeln auf ihrem Teller. Mari hat nicht den Eindruck, dass Birgitta sich noch sonderlich für das interessiert, was gesagt und getan wird.
Die vierte Krankenschwester heißt Annika und ist heute nicht da. Ihr Kind ist wieder einmal krank.
Lars legt eine neue Folie auf den Overheadprojektor. Budgetzahlen. Er räuspert sich und sagt: »Wie ihr seht, soll die gesamte Erstversorgungseinheit fünf Millionen einsparen. Für unsere Abteilung sind es ungefähr dreihundertfünfzigtausend.«
»Wie sollen wir das schaffen?«, fragt Ulla. Sie ist heute energiegeladen.
»Die vakante Krankenschwesterstelle von Josefin wird nicht mehr besetzt. Sonst weiß ich auch nicht. Da wir eine vakante Arztstelle haben, müssen wir ab und zu eine Vertretung suchen. Das kostet Geld. Möglicherweise schließt das Amt für Erstversorgung die Pflegeambulanz in Lillevik. In dem Fall könnten wir die Gelder von dort übertragen bekommen.«
Sie diskutieren eine Stunde lang über das Budget. Mari macht sich Sorgen. Niemand weiß, wie sie noch mehr einsparen sollen. Es gibt einfach eine gewisse Zahl von Patienten, die jeweils eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Das Personal hat schon jetzt zuviel Arbeit. Es ist unbefriedigend, dauernd die Dinge, für die man gerne mehr Zeit hätte, im Vorbeigehen machen zu müssen. Wenn ich nicht eine Stunde pro Woche Tante Anna widme, weil ich zuviel anderes zu tun habe, sitzt sie bald bei einem Arzt in der Sprechstunde. Dann kostet sie letztendlich viel mehr. Als würde man in einem zähen Brei rühren. Am schlimmsten ist es für Lars. Neben den Patienten hat er auch noch viel administrative Arbeit.
Sie gehen über zum Thema Sprechstunde und reden über eine Umfrage, die sie durchführen wollen. Lars schließt die Sitzung mit der Mitteilung, dass Eva-Lena im Herbst zur Ärzteversammlung geht. Sie bekommen für diese Tage eine der üblichen Vertretungen. Einen Kerl aus Göteborg, der lieber Theater spielt und nur ab und zu eine Woche als Arzt arbeitet, um Geld zu verdienen. Mari ist froh, dass die Besprechung vorüber ist. Nachdem die anderen den Raum verlassen haben, geht sie zu Lars, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
»Wie geht’s?«, fragt Lars. Er setzt sich neben dem Overheadprojektor auf den Konferenztisch und fordert Mari auf, sich auf einen Stuhl ihm gegenüber zu setzen.
»Ich denke viel an Vera«, antwortet Mari, als sie sich gesetzt hat.
Lars streicht sich die Haare aus der Stirn, faltet die Hände, fängt Maris Blick auf und sagt: »Das wird schon wieder mit Vera. Wenn der erste Schock vorbei ist, werden sowohl du als auch sie einsehen, dass sie jetzt nicht noch mehr Sorgen hat, eher weniger. Das klingt hart, aber so ist es.«
»Vielleicht hast du recht. Aber ihr ganzes Leben ist so tragisch.«
»Übertrage das nicht auf dich. Verwechsle dich nicht mit ihr.«
Lars sieht aus wie ein Beichtvater in seinem dunkelblauen Poloshirt. Mari schlägt den Blick nieder und denkt, dass sein Rat handfest und wahr ist. Sie hat sich zu sehr in Veras Sorgen eingefühlt und diese zu ihren eigenen gemacht. »Du hast recht«, sagt sie noch einmal. »Ich muss versuchen, die Dinge auseinanderzuhalten.«
Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause denkt sie an ihren eigenen, relativ frischen Kummer, dessen Kruste so dünn ist wie neu gefrorenes Eis auf einer Pfütze. Der kleinste Riss zerstört die Schutzschicht, obwohl es beinahe vier Jahre her ist, dass Lennart starb. Um diese Zeit war er besonders krank gewesen, deshalb ist es auch diese Jahreszeit, in der es ihr am schlechtesten geht, in der sich die Erinnerungen am stärksten aufdrängen. Sie versucht, aus dem, was in den letzten Tagen passiert ist, eine Lehre zu ziehen. Mitgefühl ist das eine, aber sich mit einem Patienten zu identifizieren ist unprofessionell. Und vor allem: Will sie Vera irgendwie helfen, muss sie das auf professionelle Weise tun.
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