»Das ist der Vorteil, wenn man in einer Wohnung wohnt. Da brauche ich so etwas nicht zu machen.«
»Man muss ein Hobby haben. Denk an die Rente.«
»Wie viele Tage hast du jetzt noch?«
»Zweihundertachtundachtzig. Es wird gut sein, diesen Scheiß hier nicht mehr machen zu müssen.«
»Schön für dich.«
»Nimm es mir nicht übel, aber ich sage dir, ich bin diesen Job hier leid. Als ich vor vierzig Jahren als Polizist anfing, sollten wir den Menschen helfen. Gauner einfangen, damit die gewöhnlichen Leute ihre Ruhe hatten. Herrgott, es kommt mir vor, als sei das in der Steinzeit gewesen.« Er nimmt den letzten Schluck, rülpst und wirft die Dose auf den Boden. »Besoffene Dreizehnjährige und siebzehnjährige Autoknacker in Verwahrung nehmen. Dann kommt das Jugendamt, klopft ihnen auf die Schulter und sagt: ›Freundchen, so etwas darfst du nicht machen.‹ Am nächsten Tag schnappen wir sie uns wieder. Das nimmt nie ein Ende!«
Åke antwortet nicht. Er blinkt links, muss einen entgegenkommenden Lastwagen abwarten und biegt dann in den Schotterweg nach Klocksbo ein. Ein Bauer ist gerade beim Pflügen, und ein paar Möwen fliegen kreischend über das Feld auf der Jagd nach aufgewühlten Würmern. Nach einigen Kilometern sieht man das weiß gestrichene Haus. Vor der Scheune stehen drei Schrottautos. Das, was einmal der Garten war, ist zugewachsen. Nur die Sonne kann dem Verfall einen versöhnlichen Anstrich geben. Dem, was aufgeräumt, gestrichen und gestutzt werden müsste. Åke weicht einer Katze aus und bringt den Wagen auf dem Hof zum Stehen. Mari steht auf der Treppe. Er verspürt Lust. Eine Mischung aus Freude und Sehnsucht.
»O Gott, wie schön, dass ihr es seid!«
»Wir sollten aufhören, uns so zu treffen«, sagt Åke. Er bereut seine Worte sofort. Warum muss er nur immer spotten?
»Ist jemand tot?«, fragt Göte.
»Bengt.«
»Damit war wohl zu rechnen, dass er früher oder später eine Überdosis nimmt.« Göte hat genug von Drogenabhängigen.
»Falls man sich nicht selbst eine Überdosis Messer verabreichen kann, dann hat ihn jemand umgebracht«, antwortet Mari verärgert. »Geht hoch und schaut nach!« Sie geht zurück zu Vera.
Åke seufzt tief und folgt Göte ins Haus.
Vera sitzt noch immer am Küchentisch und zwirbelt mit leerem Blick das Garn, sie schaut nicht auf, als Mari sich neben sie setzt. Mari streicht Vera über die Hand. »Ich habe die Polizei angerufen. Sie ist jetzt da.«
»Polizei?«
»Ich musste es tun, das wirst du verstehen.« Sie fasst sich ein Herz, jetzt oder nie. »Vera, Bengt ist tot. Ich habe ihn im Badezimmer gefunden. Es sieht aus, als habe ihn jemand getötet.« Sie lässt ihre Worte auf die andere wirken, aber zweifelt einen Moment lang, ob diese sie gehört hat. Ein gelbrotes Ahornblatt fliegt gegen die Fensterscheibe und schwebt dann auf das Sims hinunter. Es schimmert im Sonnenlicht. Vera ist still, aber dann fängt sie an zu weinen. Die Tränen laufen ihr über die Wangen auf die Brust hinunter, wo sie von der glänzenden Wolle der Strickweste aufgesaugt werden. Sie machen dunkle Punkte auf dem hellen Blau, wie Schmutzflecken. Vera holt ein Taschentuch aus der Tasche, die am Rollstuhl hängt. »Er war mein Kind!« Die Worte klingen resigniert, wie bei jemandem, der die Bestätigung für etwas bekommt, das er schon lange erwartet hat.
»Ich koche uns einen Kaffee, in Ordnung?« Die ältere Frau nickt, und Mari bereitet alles vor und stellt zwei Tassen auf den Tisch.
Vera bekommt ihren Kaffee, sie wärmt beide Hände an der Tasse, trinkt aber nicht. »Er war ein Nichtsnutz, aber du weißt, egal wie es steht, dein Kind ist immer dein Kind.«
Mari rückt ihren Stuhl näher an Vera heran und legt ihren Arm um sie. »Liebe, gute Vera. Das alles ist so schrecklich.« So bleiben sie lange sitzen. Wie immer, wenn es keine tröstenden Worte gibt, ist es am besten zu schweigen.
Im Flur hört man trampelnde Schritte, als Åke und Göte hinausgehen.
Er hat ein gefährliches Leben geführt, Bengt Silén, denkt Mari. Drogen und gewalttätige Bekannte. Dass er auf dem Weg vom Altersheim zur Postbank, wo er seine Rente abheben wollte, sterben würde, hat wohl niemand geglaubt, aber sein plötzlicher Tod kommt dennoch überraschend. Sie fühlt sich unschlüssig und gestresst. Sie hat Kinderambulanz am Nachmittag. Es ist absurd, jetzt an sich selbst zu denken und daran, wie man die eigenen Sachen erledigen soll, wo Vera in solch einer Lage ist, aber sie kann es nicht ändern. Irgendetwas muss getan werden, nichts wird besser davon, dass man es aufschiebt. Sie gibt sich einen Ruck, versucht, Veras Blick einzufangen, und erhebt die Stimme so, dass die andere aus ihren Gedanken schreckt. »Du kannst hier nicht allein bleiben, nicht nach dem, was passiert ist.«
»Wohin soll ich denn gehen?«
»Ich rufe Carina an, die Pflegedienstleiterin. Sie soll versuchen, übergangsweise einen Platz im Pflegeheim für dich zu besorgen.«
Vera verzieht das Gesicht, aber nimmt das schnurlose Telefon aus der Tasche am Rollstuhl und reicht es Mari. Es ist am besten, jetzt gleich anzurufen, bevor Carina Mittagspause macht.
»Carina Ljungström.«
»Hallo, hier ist Mari. Kannst du für Vera Silén einen Platz in Svalebo organisieren?«
»Kann ich den Mond herunterholen? Wie wichtig ist es?« »Sehr wichtig.«
»Es gibt in der Kommune fast keinen freien Platz. Die Frau von Anders Johansson ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden, deshalb geht er heute nach Hause. Ich dachte eigentlich daran, dass Alfred aus Näset morgen den Platz haben könnte. Sonst muss ich bei ihm mehr häusliches Pflegepersonal einsetzen.«
»Tu das! Ich komme nachher mit Vera, wenn du so nett bist, im Heim Bescheid zu geben. Ich erkläre dir dann alles.« Mari legt auf und wendet sich an Vera.
»Soll ich dir beim Packen helfen?«
Vera nickt. »Ich brauche etwas zum Anziehen und eine Zahnbürste. Windeln werden sie wohl dort haben.« »Willst du nicht deine Häkelarbeit mitnehmen? Ein paar Bücher?«
Vera zuckt apathisch mit den Schultern. Mari findet eine große Reisetasche in der Kleiderkammer und packt Röcke, Hosen, Pullover und Unterwäsche ein. Sie geht in Veras Badezimmer und findet die Toilettenartikel.
»Sind deine Medikamente in der Küche?«, ruft sie Vera zu.
»In der Schublade unter dem Besteck.«
Als Mari die Dosen und Tablettenröhrchen in die Tasche gestopft und den Reißverschluss zugezogen hat, öffnet Åke die Küchentür. Er mustert Mari, um herauszufinden, ob sie noch böse ist.
»Ich bringe Vera nach Svalebo«, sagt Mari. »Könnt ihr mit eurem Verhör, oder wofür auch immer ihr sie braucht, bis später warten?«
»Ich denke schon«, sagt Åke. Sein großer Körper füllt den Türrahmen aus, das Gesicht ist blass, zwei weiße Strähnen ziehen sich von den Schläfen durch das dunkle Haar. »Wir haben die Kripo verständigt.« Er geht unbeholfen auf Vera zu und nimmt ihre Hand. »Mein herzliches Beileid, Vera.«
Sie antwortet nicht, aber klopft ihm auf den Arm und trocknet sich die Augen mit einem zusammengeknüllten Taschentuch.
Die Polizisten helfen Vera, in Maris Clio zu steigen. Auf Åke und Göte gestützt macht sie ein paar stolpernde Schritte und setzt sich auf den Beifahrersitz. Sie sieht die Menschen um sich herum nicht an, auch nicht das Haus, das sie im Begriff ist zu verlassen. Ihr Blick starrt abwesend aus dem Autofenster.
Im Pflegeheim wird Vera gut von Schwester Siv versorgt, einer großen Frau mit einem ebenso großen Herzen. Schon im Eingangsbereich flattert sie ihnen entgegen, in einem rotweiß gestreiften Kleid, das sie wie eine aufgedunsene Zuckerstange aussehen lässt, überall an ihr schwillt und quillt es. Ihr Haar ist à la Roxette blondiert, und zwischen den mit Make-up bedeckten Wangen sitzt ein rosa Schmollmund. Sie schnalzt, jammert und verzieht das Gesicht während Maris kurzer Erklärung. Wie eine Glucke breitet sie dann ihre Flügel über Vera aus, und Mari spürt, dass diese in guten Händen ist.
Читать дальше