«Ich verspreche dir, dich mehr zu lieben, als ich es im vergangenen Jahr getan habe, aber weniger, als ich es 1984 tun werde.»
Der Brief, auf den Britt Winter und Mossad gewartet hatten, kam am Freitag mit der Post. Die runden Druckbuchstaben auf dem Umschlag waren mit schwarzem Filzstift geschrieben worden und eingerahmt von Kringeln, Zweigen und Vögeln. So schrieb Santiago Garcia, die treibende Kraft hinter der Theatergruppe «Luftraum», seine Adressen. Auf einer Karte stand ein Gruß.
EIN GUTES NEUES JAHR, BRITT.
Nächste Woche fangen wir an.
Um zehn Uhr am Montag. Rosenlundsgatan.
Hauptbesprechung. Du bist willkommen!
Unter seiner Unterschrift lag ein gefleckter Hund und glotzte sie an.
Für Britt war es schwerer gewesen, sich diese Einladung zu erkämpfen, als Tamara Amram und Mossad sich das vorgestellt hatten. Sie hatte für die Theatergruppe freiwillig Sklavenarbeit geleistet, hatte Kostüme genäht, Brote gebacken, Maschine geschrieben, Botengänge erledigt. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob es nicht direktere Wege gab, die Jörgen Blom zu einem Treffen mit dem sowjetischen Geheimdienst in Schweden führten. Tamara hatte sie heruntergemacht – Profis nahmen von Amateuren keine Ratschläge an. Obwohl Mossad sich damals, als sie als Touristin in Israel gewesen war, gern angehört hatte, was sie zu sagen gehabt hatte.
Britt war in Tel Aviv von einem schwedischen Offizier, einem UNO-Beobachter im Libanon, der Hof gemacht worden. Um ihr zu imponieren, erzählte er von seinem Dienst, seinen Sympathien für die Palästinenser und von den Sympathisanten der PLO unter den Offizieren der UNIFIL – der Friedenstruppe der Vereinten Nationen im Libanon.
Eines Morgens explodierte eine Fahrradbombe auf einem Schulhof schräg gegenüber von ihrem Hotel. Der Schlag und das Heulen der Sirenen der Krankenwagen trieben sie ans Fenster. Sie sah, wie die Kinder fortgetragen wurden; vier Tote, sieben Verstümmelte. Sie rief ihren Vater an, der Pfarrer in Njurunda war, und erzählte ihm alles, weinte.
«Was sind das nur für Menschen, Vater?»
«Menschen ohne Gewissen, Britt.»
Sie ging auf die Polizeistation in der Rehov Ben Yehuda, und das war der erste Schritt zu einem Treffen mit Mossads stellvertretendem Operationschef, Tamara Amram. Sie trafen sich einmal in Paris und zweimal in Rom. Tamara erzählte von den vielen jüdischen Opfern des fürchterlichen Paragraphen 70 im Strafgesetzbuch der Sowjetunion. Dann bat sie Britt, dabei zu helfen, ein Treffen zwischen einem ehemaligen schwedischen Geheimdienstmann und einem der Verantwortlichen für die Aktivitäten des KGB in Schweden zu arrangieren.
Tamara hatte geplant und dabei auf das Theaterinteresse der hübschen Schwedin gebaut. Britt wollte ihre politischen Ideen und moralischen Wertungen szenisch vermitteln und ein breites Publikum dazu bringen, sie als künstlerische Ausdrucksweise zu akzeptieren. In und um Stockholm gab es mehrere freie Theatergruppen: «Oktober», «Erdzirkus», «Aurora», «Sargasso» . . . Die Israelin hatte «Luftraum» vorgeschlagen, denn diese Gruppe war mit Straßentheater und Bühnenaufführungen an der Kulturwoche in Ost-Berlin, Dresden und Leipzig beteiligt gewesen. Die Botschaft von «Luftraum» war Abrüstung und eine Blockade der Waffenindustrie.
«Die Mitglieder von ‹Luftraum› sind keine Kommunisten», versicherte Tamara. «Eher würde ich sie zu den Anarchisten rechnen. Unabhängig in ihren Ansichten, sind sie dank ihrer Aktivitäten genau die Sorte Mensch, für die sich der sowjetische Geheimdienst interessiert. Denk daran, daß einer der höchsten Offiziere des KGB in Stockholm formal Kulturattaché an der sowjetischen Botschaft ist.»
Nun war Britt also Mitglied der Theatergruppe geworden, und die Spielmarke Jörgen Blom war ein Feld näher an den KGB-Offizier herangerückt. Bei dem inszenierten Treffen in Arlanda hatte sie ihr Objekt für einen steifen, höflichen Langweiler gehalten. Nachdem sie das erste Mal mit ihm allein gewesen war, hatte sie ihre Meinung geändert. Sie ging mit Jörgen ins Bett, weil sie es so wollte und nicht, weil andere es geplant hatten, sie machte sich nicht zur Nutte des israelischen Geheimdienstes. Sie hatte sich in ihn verliebt und war mehrere Male kurz davor, ihm zu verraten, was Tamara alles inszeniert hatte. Nur daß Jörgen ihr etwas vorlog, hielt sie davon ab. Er trat ihr gegenüber als der politisch ausgestoßene Bürokrat auf. Wenn sie sich jetzt aufrichtig zeigte, würde auch seine schützende Verkleidung fallen, und die Liebe, die sie aneinander band, würde sich in Mißtrauen und Bitterkeit verwandeln.
«Luftraum» probte in Rosenlundsgatan. Der Tabakhändler um die Ecke hatte Britt wehmütig erzählt, daß das Theater in der guten alten Zeit ein angesehenes Kino gewesen war. Als Santiago Garcia die Räume entdeckte, hatten sie als Auktionslager, Schreinerwerkstatt und Maleratelier gedient. Sie zu heizen war zu teuer, deshalb saßen jetzt alle da und schlotterten trotz ihrer Mäntel und Steppanoraks.
«Luftraum» war ein Arbeitskollektiv und bestand aus neun Erwachsenen und drei Kindern. Sieben der Schauspieler und die Kinder lebten gemeinsam in einem großen Haus in Äppelviken, das in den zwanziger Jahren gebaut worden war. Fünf dieser sieben hatten 1978 die Theatergruppe gegründet und die Zielsetzung formuliert: Kultur soll ein natürlicher Spiegel der Gesellschaft im ganzen sein, etwas, das aus den kollektiven Erfahrungen der Mitbürger wächst. Motor von «Luftraum» war Santiago Garcia aus Barcelona, seit einigen Jahren schwedischer Staatsbürger. Er war geschmeidig, dunkel, mit hübschen Händen, vielleicht eine Idee zu weich. Alle nannten ihn Santi. Britt hatte erfahren, daß er vom Franco-Regime aus Katalonien vertrieben worden war. Santi war mit Ulla verheiratet, die ebenso wie ihr berühmter Vater umstrittene Artikel zu Kulturfragen schrieb. Sie war für einen Spruch bekannt, den sie verbreitet hatte: Früher glaubten nur die religiösen Fanatiker an den Weltuntergang. Im Zeitalter der Kernwaffen sind es die Realisten, die daran glauben. Ulla und Santi hatten eine niedliche, selbstbewußte dreijährige Tochter, die Liv hieß.
Zum Erfolg des Kollektivs «Luftraum» trugen alle mit ihren Ideen bei. Es gab keinen Produzenten und keinen Regisseur. Allerdings einen Organisator für die Spielpläne und Tourneen: das war fast jedesmal Santi. Er war kein großer Schauspieler, was er gern zugab, er hatte eine glücklichere Hand mit Finanzen und Finanzierungen.
Sie begannen mit der Arbeit an einem Stück, das Gunilla Öhman geschrieben hatte: Wo die Pelikane schlafen. Jeder las den anderen sämtliche Rollen vor. Das war die Voraussetzung für die Verteilung der Rollen und die Diskussion über die philosophischen und szenografischen Zusammenhänge in dem Stück.
Für Britt Winter wurde die Ausdrucksform, die in «Luftraum» praktiziert wurde, nämlich mit dem Körper und der Stimme zu übertreiben, eine Befreiung. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Gruppe, die eine bewußt selbständige Theatersprache jenseits der Wirklichkeit aufbauten, wurde Gunilla Öhmans Stück Britts Realität, und das Theatralische war ihr Intrigenspiel für den Mossad.
Sie traf sich weiterhin jeden Abend mit Blom, entweder ging sie nach den Proben zu ihm, oder er kam zu ihr. Auf den zugefrorenen Wasserläufen in der Stadt unternahmen sie fast täglich längere Schlittschuhausflüge. Blom war sich bewußt, daß sein Drohnendasein ihn leicht zu einem Querulanten werden lassen konnte. Britt sprühte vor Freude über ihre neue Aufgabe, und er bot sich an, ihr beim Lernen ihrer Rolle zu helfen, denn er hatte die vage Idee, daß ein Schauspieler dasitzen und seine Rolle auswendig lernen mußte. Das gegenseitige Lesen und Abhören war bei der Arbeitsweise von «Luftraum» sinnlos, aber schließlich willigte sie seinetwegen ein.
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